In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Protagonisten unseres Alltags zu Wort - Menschen, denen wir täglich begegnen, über die jeder eine Meinung, aber von denen die wenigsten eine Ahnung haben: eine Wiesnbedienung, ein Pfarrer, die Frau an der Supermarktkasse. Sie erzählen uns, wie es ihnen ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Gäste, Mitmenschen. Diesmal erzählt der Kaminkehrer Timo L., wie er seinen Alltag erlebt.
Die meisten Menschen freuen sich, wenn sie mich sehen. Von den Leuten in der Stadt höre ich oft: "Gibt es Sie auch noch?" Auf dem Land ist es herzlicher, viele kennen einen schon. Oft wollen mich die Leute anfassen, das soll Glück bringen. Manche wollen, dass ich ihnen eine schwarze Nasenspitze verpasse, denen streiche ich dann einmal mit dem Finger drüber.
Am Anfang fand ich es komisch, dass so viele Fremde zu mir kamen und angefasst werden wollten. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Einmal ist es mir aber zu viel geworden. Ich war noch in der Ausbildung und befand mich gerade in der Wohnung einer älteren Dame. Sie fragte, ob sie mich auch einmal drücken dürfe und langte mir dabei richtig fest an den Hintern. Wenn sie 25 gewesen wäre, hätte ich das vielleicht noch in Ordnung gefunden - aber so nicht!
Was ich überhaupt nicht leiden kann, sind Leute, die denken, sie wären was Besseres, nur weil sie in einem schicken Haus wohnen oder im Büro arbeiten, wo sie sich nicht schmutzig machen müssen. Man merkt es schon daran, wie sie einem die Tür öffnen. Manche fragen grantig: "Was wollen Sie hier?" Einer hat seiner Frau zugerufen: "Schatz, der depperte Kaminkehrer ist da, soll ich ihn reinlassen?"
Manche von euch denken, ich bin Kaminkehrer geworden, weil ich in der Schule nicht aufgepasst hätte. Ich wurde schon gefragt, ob es für den Beruf überhaupt eine Lehre gibt. Denen kann ich nur sagen: Nicht jeder kann Kaminkehrer werden. Wir kontrollieren und reinigen Lüftungs- und Feuerungsanlagen, messen Abgaswerte, beraten zu Energie und Brandschutz. Neben handwerklichem Wissen müssen wir die Verbrennungslehre beherrschen und mithilfe der Stöchiometrie chemische Reaktionen berechnen. Außerdem kennen wir uns mit Feuerungsverordnungen und Brandschutzkonzepten aus. Und wir sollten den Inhalt von fünf Gesetzesbüchern im Kopf haben - hinzu kommen die sich jährlich ändernden Verordnungen.
Es kann auch nicht jeder auf Dächer steigen. Wir machen das bei jedem Wetter. Besonders gefährlich sind Windböen. Wenn noch Morgentau hinzukommt, müssen wir wahnsinnig aufpassen, das kann wie Glatteis sein. Den Hausbesitzern unter Euch möchte ich sagen: Bitte schaut nach Euren Dächern und haltet die Sicherheitsvorschriften ein! Wenn Schindeln nicht richtig sitzen, haben wir keinen festen Tritt und geraten aus dem Gleichgewicht. Pfusch kann für uns lebensbedrohlich sein.