Süddeutsche Zeitung

"Wie ich euch sehe" zu Dialysepatient:Würdest du mir eine Niere spenden?

Lesezeit: 4 min

Von einem Tag auf den anderen ließ sein Körper ihn im Stich. Seit Arno W. an der Dialyse hängt, sieht der 35-Jährige gesunde Menschen mit anderen Augen.

Protokoll: Violetta Simon

In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Menschen zu Wort, mit denen wir im Alltag zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen: eine Kontrolleurin, ein Pfarrer, eine Rollstuhlfahrerin, ein Zahnarzt. Sie erzählen, wie es ihnen ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Patienten, Mitmenschen. Diesmal beschreibt der Dialyse-Patient Arno W. die Sicht eines Kranken auf die Gesunden.

Es war in den Sommerferien, ich war mit meiner Tochter Eis essen. Plötzlich konnte ich nicht mehr atmen, schaffte es gerade noch, zu signalisieren, dass ich Hilfe brauche. Dann kippte ich vom Stuhl. Der Notarzt kam, rettete mich in letzter Minute.

Es stellte sich heraus, dass meine Lunge sich mit Wasser gefüllt hatte und mein Blut vergiftet war: Nierenversagen. Dieses Organ sendet keinen Schmerzimpuls, daher war ich bis zuletzt ahnungslos. Auch die Ärzte fanden keine konkrete Ursache. Und es gelang ihnen nicht, die Nieren wieder zu aktivieren.

Als ich wieder zu mir kam, fühlte sich mein Körper bleischwer an, ich bewegte mich wie in Zeitlupe. Ich hatte immer Sport gemacht, diesen Zustand kannte ich nicht. Seitdem ist alles anders: Ich verbringe drei Vormittage pro Woche in einer Klinik bei der Dialyse.

Mein Leben fühlt sich manchmal abstrakt an, weil meine Krankheit nicht konkret spürbar ist. Da ist nur diese Erschöpfung. Dialyse kostet Kraft, das eigene Blut geht fünf Mal aus dem Körper hinaus und wieder hinein. Häufig fühle ich mich wie nicht von dieser Welt, weil die Gesellschaft so hektisch und ich zwangsweise so entschleunigt bin.

Dann ist da diese Ohnmacht, die Erkenntnis, nichts tun zu können. Könnt Ihr euch vorstellen, wie das ist? Krank zu sein, obwohl man immer auf seine Gesundheit geachtet hat. Ich fühle mich im Stich gelassen von meinem Körper. Ich habe so viel für ihn getan, und auf einmal ist er weg. Jetzt kann ich ihm nur noch Medikamente zuführen.

In den Stunden, während ich an dem Gerät hänge, gehen mir alle möglichen Dinge durch den Kopf. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn meine Nieren wieder arbeiten würden. Das jedenfalls hoffen die Ärzte. Jedes Mal vor der Dialyse nehmen sie mir Blut ab und testen die Werte. Bei gesunden Nieren sind der Kreatinin- und der Harnstoffwert niedrig. Wäre das der Fall, wäre ich von einem Tag auf den nächsten von der Dialyse befreit. Bei mir sind die Werte jedes Mal sehr hoch. Dann ist klar, dass ich wiederkommen muss.

Manchmal weiß ich nicht, wohin mit meiner Angst. Darf ich sie euch zumuten? Euch gestehen, dass mir manchmal alles zu viel ist, wenn ich umgeben bin von euch Gesunden?

Wenn ich euch ansehe, in eurer gesunden Selbstverständlichkeit, denke ich oft: Wie blind Ihr seid für das, was Ihr habt. Eure Arroganz macht mich wütend, manchmal kotzt sie mich an. Wie Ihr euch beklagt - über das Wetter, die Leute, eure Zipperlein. Dabei funktioniert bei euch doch alles! Aber Ihr macht euch keine Gedanken darüber. Wie Ihr da steht und euch die Kippen reinzieht, abends der Alkohol durch eure Kehle fließt. Euer Körper macht das einfach so mit. Ihr mutet ihm zu, all das zu kompensieren. Und meiner? Übernimmt noch nicht mal seine normale Funktion.

Dieses subtile Jammern - Ich kenne das ja von mir selbst, damals. Wir sind so gestrickt, dass wir uns erst Gedanken machen, wenn etwas nicht mehr funktioniert. Wenn heute zum Beispiel eine Freundin zu mir sagt: "Ach Gott, bin ich müde!" Dann sehe ich sie an und denke: Schön, dass bei dir sonst alles in Ordnung ist. Seid Ihr euch eigentlich darüber im Klaren, was für ein Geschenk es ist, ohne Einschränkung und fremde Hilfe zu leben?

Ohne diese Hilfe wäre ich nicht mehr am Leben, das wird mir immer wieder bewusst. Durch die regelmäßigen Krankenhausaufenthalte ist klar geworden, wie viel manche dafür tun, damit es anderen gut geht. Die Flure der Ambulanz sind voll mit Patienten, die Ärzte und Schwestern hier setzen sich unter schwierigen Bedingungen für andere ein, und nach 14 Stunden haben sie oft noch lange keinen Feierabend. Doch die Leute beklagten sich über die langen Wartezeiten.

Damals, bei meinem Zusammenbruch im Sommer, bekam ich zwei Blutkonserven. Das Blut eines fremden Menschen hat mir geholfen, zu überleben. Blut bekommt man leichter als Organe. Die Ärzte haben gesagt, dass eine Nierentransplantation mir helfen könnte.

Aber darf ich mich euch in meiner Bedürftigkeit zumuten? Euch eine solche Entscheidung abringen? Würdest du, Gesunder, mir eine deiner Nieren spenden? Damit ich weiterhin der Papa meiner Tochter sein kann?

Von meinen Freunden oder meiner Familie kam bisher niemand auf mich zu. Doch kann ich das überhaupt erwarten? Und was, wenn wirklich einer sagt: "Ich gebe dir meine Niere"? So etwas ist eine große Geste, ein Geschenk. Dürfte ich dieses Geschenk annehmen?

Es wäre gelogen, wenn ich sage, dass ich es mir nicht wünsche - dass mir jemand von euch diese Geste als Akt der Nächstenliebe aus freien Stücken zuteilwerden lässt. Doch ich möchte nicht als Bittsteller auftreten und euch danach fragen müssen: "Verrätst du mir deine Blutgruppe, damit wir sehen, ob man da was machen kann?"

Wem würde ich eine Niere spenden? Gute Frage. Meinem Kind, natürlich. Und es macht mich traurig, dass ich es nicht kann. Die Beziehung zu meiner Tochter ist durch die Krankheit intensiver geworden. Überhaupt hat Zweisamkeit eine größere Bedeutung für mich. Mit Menschen, die mir nahe sind, Zeit zu verbringen, hat jetzt eine andere Qualität.

Ich denke, wir sollten öfter fünf gerade sein lassen und das Leben nehmen, wie es ist. Mein Leben ist jetzt eben gerade so.

Morgen geht es wieder zur Dialyse, danach gehe ich vielleicht einen Kaffee trinken. Weiter zu planen, macht keinen Sinn. Ob ich je wieder in Urlaub kann? Wie es beruflich für mich weitergeht? Früher hatte ich auf alles eine Antwort. Heute antworte ich meistens: keine Ahnung. Ich hinterfrage nicht mehr alles, sondern schau mir an, was passiert. Und probier's einfach aus.

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