Wie ich euch sehe:"Was genau finden Sie denn ekelhaft?"

Wie ich euch sehe: "Wie ich euch sehe" diesmal aus der Sicht einer stillenden Mutter.

"Wie ich euch sehe" diesmal aus der Sicht einer stillenden Mutter.

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Dumme Sprüche und unerwünschte Ratschläge: In einer neuen Folge "Wie ich euch sehe" berichtet eine stillende Mutter von ihren Erfahrungen.

Von Leonie Gubela

An Stillen in der Öffentlichkeit bin ich ganz unbedarft herangegangen. Beim ersten Mal war ich in einem Café und der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, als meine Tochter das Quengeln anfing, war "Oh! Das Kind hat Hunger. Ich sollte etwas dagegen tun." Ich hätte nicht im Leben in Betracht gezogen, vor euren Blicken mit ihr auf die Toilette zu flüchten. Ich will meinen Burger doch auch nicht auf dem Klo essen.

Es hat euch auch nicht gekümmert. Oder habe ich das bloß nicht bemerkt? Ich achtete jedenfalls nicht darauf, ich war beschäftigt. Was sollte es euch auch ausmachen, habe ich gedacht. Ich verstehe, dass ein schreiendes Baby stört. Aber ein zufrieden nuckelndes?

Stillen vor Fremden war also erst einmal kein Problem für mich. Bis zu diesem Tag im Museum. Damals war sie gerade vier Wochen auf der Welt - alt genug für einen etwas längeren Ausflug. Die Kleine war hungrig, ich legte sie an. Nicht vor einem Gemälde, sodass ich anderen die Sicht darauf versperrt hätte. Nein, es war in dem Raum vor der Garderobe, ganz diskret. Ich saß dort der Wand zugewandt und hörte zwei Männer hinter mir raunen: "Ist das ekelhaft. Was fällt ihr ein?"

Ich bin eine schlagfertige Person - in dem Moment war ich sprachlos. Könnte ich die Situation noch einmal erleben, ich würde den beiden gerne Fragen stellen. So was wie: "Was genau finden Sie denn ekelhaft? Meine Brust, von der Sie nicht mal etwas erkennen können? Die Tatsache, dass ein Kind daran saugt?"

"Das ist eine so widersprüchliche Prüderie"

Ich bin Fotografin und habe aus dieser Erfahrung ein Projekt gemacht. In der Kirche, im Schwimmbad, in Museen, in der Straßenbahn habe ich stillende Mütter inszeniert. Ich habe überwiegend positiven Zuspruch bekommen - aber es gab auch negative Kommentare: Jemand setzte Stillen in der Fußgängerzone mit öffentlichem Urinieren gleich. Bei solchen Aussagen fällt mir echt die Kinnlade runter.

Auf Litfaßsäulen, Plakatwänden und im Fernsehen sehen die Menschen permanent nackte Brüste, da missfällt es ihnen nicht. Dann werden sie mit ihrer natürlichen Bestimmung konfrontiert und finden das plötzlich verstörend. Das ist eine so widersprüchliche Prüderie, die ich mir nicht erklären kann.

Dazu kommt der Mythos dieser Mutter, die mit blankgezogener, wackelnder Brust ihr Kind füttert. Die sich mitten im Raum platziert und bewusst die Aufmerksamkeit auf sich ziehen will. Ich nenne sie liebevoll die Stillterroristin. Aber sie existiert nicht. Bloß in euren Köpfen.

Obwohl ich weiß, dass es nicht mein, sondern euer Problem ist, wenn ihr euch an stillenden Frauen stört, hat der Vorfall in der Ausstellung dazu geführt, dass ich meine Umgebung deutlicher wahrnehme. Ich sitze auf der Parkbank, füttere mein Kind und denke: "Guckt wer schräg? Regt sich jemand auf?" Das ist so gut wie nie der Fall, aber ich kann das nicht abstellen. Meine Unbedarftheit habe ich verloren.

Dabei bin ich gewohnt aufzufallen und finde das auch gar nicht schlimm. Ich bin Plus Size und ziemlich groß. Ich habe Meinungen und vertrete sie lautstark, wenn es sein muss. Aber wenn man zum ersten Mal Mutter wird, ist da diese Verunsicherung. Auch wenn die Vorbereitung noch so akribisch ist, findet man sich plötzlich in dieser neuen Welt wieder und fragt sich ständig: "Mache ich das richtig? Gehört sich das so? Schaffe ich das?" Ein dummer Kommentar im Vorbeigehen kann einen da schon erschüttern.

"Wenn ihr eine stillende Frau seht, lächelt sie an"

Es ist schon erstaunlich, dass sogar Fremde sich befugt fühlen, Ratschläge zu verteilen, wenn es um Entscheidungen geht, die du als frischgebackene Mutter fällst. Viele Menschen glauben, sie dürften dir erklären, was du zu tun hast. Selbst die Schwestern im Krankenhaus haben mir zum Thema Stillen Widersprüchliches erzählt. Die einen sagen "Mach es so!", die anderen sagen "So ist aber besser!".

Es ist schwierig, für sich zu entscheiden, wessen Tipps man annimmt und welche man ignoriert. Ich habe mich für eine Stillberaterin entschieden, die mir gezeigt hat, wie man möglichst bequem und beiläufig die Brust gibt. Ich weiß aber auch von Frauen, die abgestillt haben, weil es ihnen in der Öffentlichkeit unangenehm war. Das finde ich schade, aber es ist trotzdem völlig in Ordnung. Es gilt: Jede, wie sie möchte.

Ich finde, Stillen ist eine ganz wunderbare Sache. Ich merke, dass meine Tochter nicht nur an die Brust will, wenn sie Hunger hat, sondern auch, wenn eine Situation für sie neu ist, sie sich geborgen fühlen will. Sie will "Mama tanken". So nenne ich das.

Wenn ihr eine stillende Frau seht, lächelt sie an, gebt ihr ein gutes Gefühl. Sie gibt ihrem Kind gerade ein gutes Gefühl.

Anke Garba, 33, lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Nähe von Kassel. Die Ausstellung "Still-Leben" ist vom 2. bis 8. Oktober in der Berliner Charité zu sehen.

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung Ihrer Situation per E-Mail an: leben@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.

In dieser Serie kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht und welche Rolle wir dabei spielen - als nervige Kunden, ungeduldige Patienten, ignorante Mitmenschen.

  • "Brauchen wir länger, tut uns das genauso weh"

    Ständig unter Strom und trotzdem meist zu spät: Ein Pizzabote erzählt, was er riskiert, um seine Lieferung möglichst schnell zum Kunden zu bringen. Und warum er sich oft wie ein Detektiv vorkommt.

  • "Die meisten wollen mich anfassen"

    Zum Jahreswechsel werden wieder kleine Schornsteinfeger-Figuren verteilt. Ein Kaminkehrer erzählt in einer Folge von "Wie ich euch sehe", wie es sich als rußüberzogener Glücksbringer lebt.

  • "Manchmal muss ich regelrecht die Tür verteidigen"

    Frauen, die sich um Ausscheidungen sorgen, Familien, die den Kreißsaal stürmen, Männer, die plötzlich umfallen: Eine Hebamme erzählt in einer Folge von "Wie ich euch sehe", was sie bei Geburten erlebt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: