"Wie ich euch sehe" vom Pizzaboten:"Brauchen wir länger, tut uns das genauso weh"

"Wie ich euch sehe" vom Pizzaboten: "Wie ich euch sehe" - aus der Sicht eines Pizzaboten.

"Wie ich euch sehe" - aus der Sicht eines Pizzaboten.

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Ständig unter Strom und trotzdem meist zu spät: Ein Pizzabote erzählt, was er riskiert, um seine Lieferung möglichst schnell zum Kunden zu bringen. Und warum er sich oft wie ein Detektiv vorkommt.

Von Max Sprick

Wer erleben will, wann der Mensch sein größtmögliches Aggressionspotenzial entwickelt, der sollte an einem Sonntagabend eine Pizzabestellung aufnehmen und sich im Stoßverkehr auf den Weg machen. Niemals ist ein Mensch aggressiver, als wenn er ohne Essen zu Hause sitzt, etwas bestellt hat und hungrig darauf wartet. Ich habe immer den Stress im Nacken, dass ich pünktlich sein muss. In einer Situation, in der es für euch eigentlich gar kein "pünktlich" gibt.

Nicht falsch verstehen: Ich kann das nachvollziehen. Ich bestelle ja selbst hin und wieder beim Lieferservice. Und mich nervt es genau so, wenn ich lange darauf warten muss. Offenbar vergehen die Minuten in dieser Aufs-Essen-Warte-Spanne besonders zäh. Aber auch wenn ihr das nicht glauben wollt: Wir können nichts dafür. Kein Pizzabote lässt sich extra lange Zeit oder fährt bewusst langsam.

Ich versuche, jede Lieferung in weniger als einer Stunde abzuwickeln. Mein Chef ist da auch sehr kleinlich, muss er auch sein, es gibt schließlich Essenslieferanten wie Sand am Meer. Bei uns soll alles perfekt sein. Zwar werden wir nach Stunden bezahlt; aber wenn wir länger zum Ausliefern brauchen, beliefern wir auch weniger (und schlechter gelaunte) Kunden - die uns dann weniger Trinkgeld geben. Brauchen wir länger zu euch, tut uns das also genauso weh.

Manchmal habe ich den Eindruck, ihr erwartet, dass euer Pizzabote klingelt, sobald ihr den Hörer aufgelegt habt, sobald ihr eure ewiggleiche Floskel runtergeleiert habt: "Hallo, ich möchte gerne etwas bestellen." Oft ruft ihr schon mal an, ohne überhaupt konkret zu wissen, was ihr wollt. Dann sprecht ihr euch am Telefon noch minutenlang mit euren Freunden ab oder blättert im Menü. Man kann Polizei und Pizzeria vielleicht nicht miteinander vergleichen, aber nehmt euch trotzdem mal ein Beispiel an den Notrufen: Da müsst ihr klar und schnell sagen, was wann wo passiert ist, damit prompt Hilfe kommt. Wenn ihr also eure Pizza möglichst bald geliefert haben wollt, dann sagt bitte klar und deutlich, was es sein darf und wohin genau ich es bringen soll.

Macht euch klar, dass da ein Fremder kommt, der weder euch noch euren Wohnort kennt. Euch am Telefon explizit zu fragen, wie ich zu euch komme, nehme ich mir zwar immer wieder vor - im Stress vergesse ich das aber meist. Weil oft drei Telefone gleichzeitig klingeln und ich während des Sprechens eure Bestellung in den Computer tippe.

Wenn ich dann im Dunkeln um Häuser schleichen muss, Innenhöfe nach Klingeln absuche oder an Fenster klopfe, komme ich mir fast vor wie ein Einbrecher. Manchmal ist auch die Klingel kaputt oder ich muss durch Hecken steigen, weil jemand die Lieferung in seinen Garten bestellt hat. Aber das ist alles nicht so schlimm, wie aus einem Hochhaus anzurufen und bei der Bestellung nicht zu erwähnen, in welchem Stock ihr wohnt oder welcher Name auf eurer Klingel steht.

Es gibt nichts Unnötigeres, als im Regen vor einem Haus zu stehen und unter 50 Namensschildern das richtige zu suchen. Und dann noch durch mehrere Stockwerke zu hetzen auf der Suche nach der entsprechenden Tür. Diese Zeit fehlt mir dann - genau - beim nächsten Kunden.

"Ich habe immer den Stress, dass ich pünktlich sein muss"

Das alles seht ihr oft nicht. Stattdessen habe ich den Eindruck, dass viele uns für doof halten. Zu doof für einen "richtigen" Job. Klingt ja auch erst mal recht simpel, unsere Berufsbezeichnung. Pizza ins Auto einladen, zum Zielort fahren, Pizza rausholen, abgeben, Geld kassieren. Ist aber nicht so simpel, wie es klingt. Erstens haben die meisten von uns einen anderen Hauptberuf oder sind Studenten. Ich zum Beispiel arbeite als Industriekaufmann. Weil ich einen kleinen Sohn habe und jedes zusätzliche Geld gut gebrauchen kann, fahre ich seit drei Jahren fast jedes Wochenende Pizza aus. Wir opfern unsere Samstag- und Sonntagabende für euch. Macht euch das mal bewusst.

Und simpel ist unsere Arbeit auch nicht unbedingt. Ich lade Pizzen, Burger, Schnitzel und Salate in Warmhalteboxen, die ich so im Auto abstellen muss, dass nichts umkippt oder überläuft. Wenn ich fünf Stunden ausliefere, stehe ich viereinhalb Stunden unter Strom, muss dabei durchgehend hochkonzentriert sein. Im Auto entscheide ich, welche der fünf Bestellungenen ich zuerst wohin fahre, wer schon länger wartet, wie ich die Tour effizient gestalte. Dann rase ich los - immer gerade so an der Grenze des Tempolimits. Ich gebe wirklich alles für euch, riskiere meinen Führerschein und - wenn ich mir die ein oder andere Situation auf den Straßen nochmal vor Augen führe - vielleicht sogar mein Leben. Klingt drastisch, ist aber so.

Es ist völlig ok, wenn ihr mir kein Trinkgeld gebt, wenn ihr selbst nicht so viel Geld habt. Viele Kunden wissen angeblich aber nicht mal, dass das dazugehört. Dabei bin ich auch nichts anderes als ein Kellner, der statt an euren Tisch im Restaurant im Auto zu euch nach Hause kommt. Alles eine Sache der Einstellung.

Neulich hatte ich bei meiner letzten Kundin für den Abend kaum noch Kleingeld. Die Rechnung betrug 8,70 Euro, das kleinste, was ich hatte, war ein Ein-Euro-Stück. Ich entschuldigte mich bei der Kundin, sagte, dass ich ihr nur einen Euro rausgeben könne. Ich bot ihr sogar an, ihr die 30 Cents gutzuschreiben und sie bei der nächsten Bestellung abzuziehen. Und was macht sie? Keift mich an, wie frech ich wäre, dass ich extra kein Kleingeld mitnehmen würde, um ihr Wechselgeld zu unterschlagen. Sie rief sogar meinen Chef an, um sich über mich zu beschweren - alles wegen 30 Cents, und obwohl ich mich mehrmals entschuldigt habe.

Oft habe ich den Eindruck, ihr wollt euch an mir, dem kleinen, doofen Pizzaboten profilieren. Da gab es diesen Typen, riesig und muskulös. In der Wohnung hatte er eine Bulldogge. Und Damenbesuch. Ich brachte ihm seine Essenslieferung und eine Flasche Rotwein. Für den Wein musste ich nochmal zum Auto, weil ich nicht alles auf einmal tragen konnte. Als ich wieder an der Wohnungstür stehe, empfängt der Mann mich mit den Worten: "Dafür will ich Rabatt." Ich frage ihn: "Wofür? Ich habe doch alles und pünktlich geliefert." Daraufhin schreit er mich an, er wolle meinen Chef sprechen, ich hätte viel zu lange gebraucht, und überhaupt. Ich denke mal, er wollte vor seiner Besucherin Eindruck schinden. So etwas nehme ich nicht persönlich. Ich weiß, das geht nicht gegen mich als Person, sondern gegen den Pizzaboten, der in dem Moment zum Aggressionsabbau taugt. Man bekommt ein dickes Fell in unserem Beruf.

Es gibt aber auch Touren, die großen Spaß machen. Die schönsten Momente sind die, in denen dir Kinder die Tür öffnen. Da komme ich mir dann nicht wie ein Detektiv vor - sondern wie der Weihnachtsmann. Wenn sie mit leuchtenden Augen aufmachen, in die Luft springen, jubeln, schreien: 'Mamaaa, die Pizza ist daaa!!'", das ist schon ein schönes Gefühl. Genau wie bei älteren Menschen, bei denen man merkt, sie sind oft einsam und freuen sich, wenn jemand sie besucht. Da nehme ich mir gerne ein paar Minuten für ein Gespräch. Viele wollen mich dann gar nicht mehr gehen lassen.

Dieser Kontakt mit so vielen, unterschiedlichen Menschen ist es, der meinen Job so besonders macht. Man erlebt immer wieder Überraschungen. Wie zum Beispiel der Mann, der mir im Hochsommer komplett nackt die Tür öffnet. Oder der Tag, an dem ich diese dick belegte XXL-Pizza liefere, deren Karton vor Fett nur so trieft. Eine Bestellung, bei der ich einen gut genährten Mann an der Tür erwartet hätte. Stattdessen steht da ein zierliches Teenager-Mädchen, von der man kaum glauben kann, dass sie so zuschlägt. Oder die Fußballmannschaft, der ich Pizza nach dem Spiel in die Kabine liefere - und die mich dann mit Gesängen und Klatschen empfängt.

In so einem Moment würde ich gern länger bleiben. Aber Sie wissen ja - der nächste Kunde wartet schon.

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