Manche Richter urteilen nur die Tat ab, ich versuche schon, die Angeklagten zu erreichen. Ich gebe keine Lebenstipps, aber ich will wissen, woran es hakt. Bei Suchtproblemen hilft den Angeklagten manchmal schon die Erkenntnis, dass sie überhaupt ein solches Problem haben. Bei finanziellen Sorgen empfehle ich die Schuldnerberatung.
Was mich frustriert, ist, dass dieselben Menschen trotzdem immer wieder kommen. Ich habe Angeklagte, die haben schon mehr als Zehntausend Euro Strafe fürs Schwarzfahren bezahlt. Da mache ich gerne mal eine Aufrechnung, wie viele Jahrestickets das gewesen wären. Ein Jahr später sitzen sie wieder vor mir. Schon erstaunlich, dass jemand nicht einfach mal das Rad nimmt. Natürlich habe ich auch Freunde, die schwarzfahren. In meinem Job muss ich Schwarzfahrer verurteilen, wenn ein Strafantrag gestellt wurde.
Bei Leuten, die einmal betrunken auf dem Rad erwischt wurden, empfinde ich die Strafen manchmal als hart. Wenn jemand mehr als 1,6 Promille hat, gilt er als absolut fahruntauglich und macht sich strafbar. Dem muss ich eine Geldstrafe aufbrummen, oft ein ganzes Monatsgehalt. Noch härter sind die Folgen: Der Verurteilte muss zum MPU-Test, sonst verliert er seinen Führerschein und darf theoretisch nicht einmal mehr Fahrrad fahren. Ich habe ständig mit solchen Fällen zu tun, aber noch nie hat ein betrunkener Radfahrer jemand anderen als sich selbst verletzt.
Wenn Leute hören, dass ich Richter bin, sagen sie oft, dass ich noch viel zu jung sei. Sie glauben, ein Richter müsse über 50 und ergraut sein. Das ist Quatsch, aber ein gewisses Maß an Lebenserfahrung schadet natürlich nicht. Die Rolle im Gerichtssaal auszufüllen, ist anfangs schwierig für manche. Der Staatsdienst ist ja nur notenabhängig, soziale Kompetenz wird nicht verlangt - dabei ist sie natürlich gefragt. Richter müssen mit den Angeklagten so reden, dass die Angeklagten sie auch verstehen. Junge Staatsanwälte, die direkt von der Uni kommen, sind manchmal sehr unsicher und deshalb oft eher streng.
Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit dem Auto nach Hause und übersehen einen Fahrradfahrer. Sie sind in Schrittgeschwindigkeit unterwegs, aber der andere fällt so blöd, dass er sich das Schlüsselbein bricht. Sie besuchen ihn im Krankenhaus und zahlen Schmerzensgeld, bekommen aber trotzdem einen Strafbefehl über ein Monatsgehalt. Ich frage mich dann: Muss das jetzt sein? Hätte mir das nicht auch passieren können?
Manchmal diskutiere ich mit meiner Frau, was sie als Nichtjuristin gerecht empfindet. Freisprechen kann ich so einen Unfallfahrer nicht, wenn der Staatsanwalt einen Strafbefehl beantragt hat. Der Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung ist gegeben. Aber ich kann das Verfahren einstellen wegen geringer Schuld. Dann muss der Angeklagte nur einen geringen Betrag an eine gemeinnützige Einrichtung zahlen.
Ich habe keine Angst, jemanden, den ich verurteilt habe, wiederzutreffen. Ich habe ein gutes Gesichtergedächtnis, oft erkenne ich die Menschen auf der Straße wieder. Andersherum passiert das fast nie. Die Angeklagten kennen mich nur in der Robe. Für sie bin ich Richter, nicht Mensch. Die Robe ist da schon praktisch. Im Sommer kann es aber ganz schön heiß werden. Kurze Hose und T-Shirt trage ich trotzdem nie darunter. Das passt nicht zu einem Richter, finde ich.
Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer persönlichen Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie in der Hinsicht schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung per E-Mail an: leben@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.