In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Menschen zu Wort, mit denen wir im Alltag zu tun haben, über die wir uns jedoch kaum Gedanken machen: eine Kontrolleurin, ein Pfarrer, eine Verkäuferin. Sie erzählen, wie es ihnen ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Patienten, Mitmenschen. Diesmal berichtet der 41-jährige Amtsrichter Lars M. (Name von der Redaktion geändert) von seinem Alltag mit Schwarzfahrern, Betrunkenen und Reichsbürgern.
Bei mir vor Gericht kann eigentlich jeder landen. Ich habe mit Menschen zu tun, die betrunken Fahrrad fahren, die jemandem die Vorfahrt genommen haben oder ohne Fahrkarte in der Bahn erwischt wurden. Aber auch mit Facebookhetzern und mit Menschen, die sich im Club geprügelt haben. Der typische Angeklagte ist männlich, viele haben keinen Job und finanzielle Schwierigkeiten.
Was mich immer wieder erstaunt, ist, dass die Menschen auf der Anklagebank selten nervös sind. Im Gegenteil: Viele sind patzig, rufen dazwischen, lassen die Zeugen, den Staatsanwalt und mich nicht ausreden, beschimpfen uns teilweise. Natürlich muss ich mich als Richter an die Gesetze halten, aber ich habe einen größeren Ermessensspielraum als viele denken. Wenn beispielsweise ein Diebstahl begangen wurde, kann ich das Verfahren einstellen, ich kann aber auch eine Geldstrafe verhängen, eine Bewährungsstrafe oder sogar eine Vollzugsstrafe.
"Wie ich euch sehe": Chef-Assistentin:"Ich bin die Fee mit dem Zauberstab"
Viktoria B. ist ein bisschen Vorzimmerdrache, ein bisschen gute Seele. Sie ist Assistentin des Chefs - eine wichtige Position. Wie sich das anfühlt, erzählt sie in einer neuen Folge "Wie ich euch sehe".
Es ist gar nicht so schwer, ein paar Pluspunkte zu sammeln. Falls Sie einmal vor Gericht landen, seien Sie freundlich und - wenn Sie Mist gebaut haben - einsichtig. Zu Ihren Gunsten wird etwa ausgelegt, wenn Sie schon versucht haben, den Schaden wiedergutzumachen. Ich erlebe immer wieder, dass ein Angeklagter behauptet: "Ich war es nicht." Auch wenn die Beweislage erdrückend ist. Eine Frau ohne Führerschein hat in einer meiner Verhandlungen einmal steif und fest behauptet, ihr Mann sei gefahren. Dabei hatten drei Zeugen sie an der Tankstelle gesehen und eindeutig beschrieben. Es gab überhaupt keinen Grund, warum die drei unbeteiligten Zeugen diese angeblich unschuldige Frau belasten sollten. Sie ist aber nicht von ihrer Aussage abgewichen. Das verstehe ich nicht.
Oft raten Verteidiger ihren Mandanten dazu, gar nichts zu sagen. Ich halte das für nicht sehr erfolgversprechend, wenn die Beweislage eindeutig ist. Natürlich gilt der Grundsatz: In dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten. Viele glauben deshalb, wenn es nur einen Zeugen gibt, sei das eine Pattsituation. Aber ein unbeteiligter Beobachter reicht oft für eine Verurteilung, wenn er glaubwürdig ist. Natürlich lügen auch manche Zeugen oder sagen Dinge, die sie nicht sicher wissen. Ich lasse mir deshalb gerne aufzeichnen, wie beispielsweise ein Unfall passiert sein soll oder frage Randaspekte ab. Da merkt man dann schnell, wenn Zeugen, die vorher alles wussten, plötzlich stocken.
Bitte sagen Sie nie: Ich war so betrunken
Als Richter muss man entscheidungsfreudig sein. Ich habe Kollegen, die ihre Entscheidung immer wieder aufschieben. Aber das macht die Sache meist nicht besser. Die Angeklagten wollen wissen, woran sie sind. Außerdem muss ich sehr flexibel sein. Beim Amtsgericht sind die Fälle oft nicht ausermittelt, die Verdächtigen haben sich noch gar nicht geäußert. In der Verhandlung überraschen sie mich dann mit einer ganz anderen Geschichte, als in den Akten steht. So überraschend wie im Fernsehen ist es aber eigentlich nie: Dass der Zeuge plötzlich der Täter ist, wie das manchmal in Gerichtssendungen passiert, habe ich noch nie erlebt.
Als Angeklagter vor Gericht sollten Sie nie sagen: "Ich war so betrunken und kann mich nicht mehr erinnern." Oder: "Ich wollte doch nur kurz ..." Alle wollten nur das Auto umparken oder schnell nach Hause. Wer fährt schon betrunken in den Urlaub?
Manchmal brauche ich ganz schön viel Geduld. Am skurrilsten sind die Einlassungen von Reichsbürgern. Sie äußern sich eigentlich nie zur Sache, sondern tragen unzusammenhängende Monologe vor. Mich als Richter nehmen sie nicht ernst, ich bin für sie nur ein Angestellter der Deutschland GmbH. Manchmal dauern solche Ideologievorträge eine ganze Stunde. Ich lasse die Angeklagten trotzdem ausreden. Das ist manchmal anstrengend, aber jemanden zu unterbrechen, würde das Klima unnötig verschärfen.
Manche Angeklagte tun mir auch leid. Aus den Akten weiß ich von ihrer schwierigen Kindheit, von Privatinsolvenzen und wie alles immer schlimmer wurde. Ein Geständnis muss ich strafmildernd werten, aber ich verhänge nicht aus Mitleid eine geringere Strafe. Ich versuche wirklich gerecht zu sein und alle Fälle gleich zu behandeln. Ich hatte schon Verhandlungen, da hat die Angeklagte ihr kleines Kind mitgebracht und behauptet, sie habe keine Betreuung gefunden. Dann kam raus, sie wollte mich so milder stimmen. Aber ob jemand ein Baby hat oder nicht, eine Trunkenheitsfahrt bleibt eine Trunkenheitsfahrt.
Manche Richter urteilen nur die Tat ab, ich versuche schon, die Angeklagten zu erreichen. Ich gebe keine Lebenstipps, aber ich will wissen, woran es hakt. Bei Suchtproblemen hilft den Angeklagten manchmal schon die Erkenntnis, dass sie überhaupt ein solches Problem haben. Bei finanziellen Sorgen empfehle ich die Schuldnerberatung.
Was mich frustriert, ist, dass dieselben Menschen trotzdem immer wieder kommen. Ich habe Angeklagte, die haben schon mehr als Zehntausend Euro Strafe fürs Schwarzfahren bezahlt. Da mache ich gerne mal eine Aufrechnung, wie viele Jahrestickets das gewesen wären. Ein Jahr später sitzen sie wieder vor mir. Schon erstaunlich, dass jemand nicht einfach mal das Rad nimmt. Natürlich habe ich auch Freunde, die schwarzfahren. In meinem Job muss ich Schwarzfahrer verurteilen, wenn ein Strafantrag gestellt wurde.
"Wie ich euch sehe" zu Kontrolleurin:"Spart euch die Luft!"
Ticket verschwunden, weggeworfen, mitgewaschen: Sie hat schon alle Ausreden gehört. Eine Kontrolleurin erzählt aus ihrem Alltag. Und warum sich Schwarzfahrer nicht zu rechtfertigen brauchen.
Bei Leuten, die einmal betrunken auf dem Rad erwischt wurden, empfinde ich die Strafen manchmal als hart. Wenn jemand mehr als 1,6 Promille hat, gilt er als absolut fahruntauglich und macht sich strafbar. Dem muss ich eine Geldstrafe aufbrummen, oft ein ganzes Monatsgehalt. Noch härter sind die Folgen: Der Verurteilte muss zum MPU-Test, sonst verliert er seinen Führerschein und darf theoretisch nicht einmal mehr Fahrrad fahren. Ich habe ständig mit solchen Fällen zu tun, aber noch nie hat ein betrunkener Radfahrer jemand anderen als sich selbst verletzt.
Wenn Leute hören, dass ich Richter bin, sagen sie oft, dass ich noch viel zu jung sei. Sie glauben, ein Richter müsse über 50 und ergraut sein. Das ist Quatsch, aber ein gewisses Maß an Lebenserfahrung schadet natürlich nicht. Die Rolle im Gerichtssaal auszufüllen, ist anfangs schwierig für manche. Der Staatsdienst ist ja nur notenabhängig, soziale Kompetenz wird nicht verlangt - dabei ist sie natürlich gefragt. Richter müssen mit den Angeklagten so reden, dass die Angeklagten sie auch verstehen. Junge Staatsanwälte, die direkt von der Uni kommen, sind manchmal sehr unsicher und deshalb oft eher streng.
Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit dem Auto nach Hause und übersehen einen Fahrradfahrer. Sie sind in Schrittgeschwindigkeit unterwegs, aber der andere fällt so blöd, dass er sich das Schlüsselbein bricht. Sie besuchen ihn im Krankenhaus und zahlen Schmerzensgeld, bekommen aber trotzdem einen Strafbefehl über ein Monatsgehalt. Ich frage mich dann: Muss das jetzt sein? Hätte mir das nicht auch passieren können?
Manchmal diskutiere ich mit meiner Frau, was sie als Nichtjuristin gerecht empfindet. Freisprechen kann ich so einen Unfallfahrer nicht, wenn der Staatsanwalt einen Strafbefehl beantragt hat. Der Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung ist gegeben. Aber ich kann das Verfahren einstellen wegen geringer Schuld. Dann muss der Angeklagte nur einen geringen Betrag an eine gemeinnützige Einrichtung zahlen.
Ich habe keine Angst, jemanden, den ich verurteilt habe, wiederzutreffen. Ich habe ein gutes Gesichtergedächtnis, oft erkenne ich die Menschen auf der Straße wieder. Andersherum passiert das fast nie. Die Angeklagten kennen mich nur in der Robe. Für sie bin ich Richter, nicht Mensch. Die Robe ist da schon praktisch. Im Sommer kann es aber ganz schön heiß werden. Kurze Hose und T-Shirt trage ich trotzdem nie darunter. Das passt nicht zu einem Richter, finde ich.
Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer persönlichen Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie in der Hinsicht schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung per E-Mail an: leben@sueddeutsche.de . Wir melden uns bei Ihnen.