"Wie ich euch sehe": Alltag eines Zahnarztes:"Ich kann eure Angst spüren"

so wie ich das sehe

Beim Zahnarzt ist es ähnlich wie im Flugzeug: Fast jeder hat ein bisschen Angst.

(Foto: Illustration: Jessy Asmus/SZ.de)

Auch wenn der Patient versucht, es zu überspielen: Dieser Zahnarzt merkt sofort, wenn sich jemand vor dem Bohrer fürchtet. Und er weiß, was hilft.

Protokoll: Oliver Klasen

In unserer neuen Serie "Wie ich euch sehe" kommen Protagonisten unseres Alltags zu Wort: Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen: eine Polizistin, eine Rollstuhlfahrerin, die Frau an der Supermarktkasse. Sie teilen uns mit, wie es ihnen ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Gäste, Mitmenschen. Diesmal erzählt Zahnarzt Martin E., wie seine Patienten mit Angst umgehen.

Ich habe eine Gabe, die mir bei meiner Arbeit ungemein hilft. Ich kann Angst geradezu spüren, ich erkenne sofort, wenn sich jemand nicht wohl fühlt. Gerade Männer versuchen oft, das zu vertuschen. Aber ich merke es trotzdem. Ich erkenne es an ihren Gesichtszügen, an ihrem Tonfall, an ihren Bewegungen, daran, dass sie bei der Behandlung nicht richtig mitmachen.

Neulich hatte ich einen Mann auf dem Zahnarztstuhl, so um die 40, groß, gutaussehend, sehr souverän, der Unternehmensberater-Typ. Doch kaum saß er auf dem Zahnarztstuhl, wurde er immer nervöser und fahriger. Es stellte sich heraus, dass er wahnsinnige Angst vor Spritzen hatte. Ich habe ihm dann unseren Betäubungscomputer gezeigt, ein kleines Kästchen, das überhaupt nicht nach Spritze aussieht: Das Anästhetikum fließt der Nadelspitze voraus, so dass das Gewebe bereits betäubt ist, wenn sie eindringt. Sie sehen: Es gibt für alles eine Lösung. Wenn man sich der Angst stellt.

Es ist ähnlich wie im Flugzeug: Fast jeder hat ein bisschen Angst, doch kaum jemand spricht offen darüber. Die wenigsten geben zu, dass sie sich gruseln, wenn sie mir auf dem Zahnarztstuhl ausgeliefert sind, dass ihnen schon übel wird, wenn sie das Wort Wurzelbehandlung nur hören. Dabei gibt es eine ganze Menge, was wir gegen die Angst tun können: viel erklären zum Beispiel, oder bei jedem einzelnen Schritt genau ausführen, was gleich kommt. Aber dazu müssen Sie schon ehrlich mit uns reden.

"Es ist nicht eklig"

Natürlich gibt es auch welche, die sagen: Doktor, machen Sie einfach und erzählen Sie es mir erst, wenn wir fertig sind. Ihre Entscheidung. Doch in der Regel ist es besser, seine Ängste offen und ehrlich kommunizieren. Zum Beispiel findet einer meiner Patienten es unerträglich, wenn man ihn vorab ins Behandlungszimmer schickt und er dann auf dem Zahnarztstuhl auf mich warten muss. Allein im Raum, die Utensilien liegen wie Folterinstrumente bereit. Und im Kopf läuft ein Film ab. Seit uns der Patient das erzählt hat, hole ich ihn direkt im Wartezimmer ab, geleite ihn zur Behandlung, verwickele ihn in ein Gespräch - und alles ist gut.

Bei manchen ist die Angst so groß, dass sie gar nicht erst zum Zahnarzt gehen. Das hat natürlich Konsequenzen für die Zähne: Mit der Zeit ist es dann so schlimm, dass die Scham überwiegt - und man sich erst recht nicht mehr untersuchen lässt.

Natürlich sehe ich manchmal arg lädierte Gebisse von Menschen, die vielleicht zehn oder 15 Jahre nicht mehr bei der Kontrolle waren. Oft werde ich von Bekannten gefragt, ob es nicht eklig ist, fremden Leuten in den Mund zu gucken. Ist es aber nicht. Ich betrachte das rein medizinisch. Ich bin Zahnarzt von Beruf und kein Oberlehrer. Ich mache den Patienten keine Vorwürfe, sondern überlege mit ihnen gemeinsam, was die jeweils beste und kostenmäßig noch vertretbare Option ist.

Mir ist extrem wichtig, dass die Chemie zwischen Arzt und Patient stimmt. Das hängt aber nicht nur von mir ab. Es wäre wirklich hilfreich, wenn Sie als Patienten etwas mehr Geduld aufbringen könnten. Manchmal dauert es eben zwei Wochen, bis man sich an ein neues Implantat gewöhnt hat. Und es dauert manchmal auch im Wartezimmer, wo wir - obwohl das immer wieder behauptet wird - wirklich keinen Unterschied zwischen Kassen- und Privatpatienten machen.

Wir arbeiten am Menschen, da kann man nicht alles exakt planen und vorhersehen. Wir sind ja nicht bei einer Imbiss-Kette, wo alles nach Schema F abläuft und nach zwei, drei Minuten garantiert das Essen auf dem Tisch steht.

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung Ihrer Situation per E-Mail an: leben@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.

In dieser Serie kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht und welche Rolle wir dabei spielen - als nervige Kunden, ungeduldige Patienten, ignorante Mitmenschen.

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