"Wie ich euch sehe" - Alltag eines Dicken:"An euren Blicken kann ich ablesen, was ihr denkt"

"Wie ich euch sehe" - Alltag eines Dicken: Dieser Mann wünscht sich, dass man ihn sieht - nicht anstarrt,

Dieser Mann wünscht sich, dass man ihn sieht - nicht anstarrt,

(Foto: Illustration Jessy Asmus für SZ.de)

Verletzende Sprüche, abschätzige Blicke und ein Alltag, der bestimmt ist von Angst. Ein Dicker erzählt aus seinem Leben und erklärt, warum man ihn nicht anstarren sondern anschauen soll.

Von Nadine Funck

In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Protagonisten unseres Alltags zu Wort: Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen: eine Polizistin, ein Hausmeister, die Frau an der Supermarktkasse. Sie teilen uns mit, wie es ihnen ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Gäste, Mitmenschen. Diesmal erzählt Günther M. aus seinem Leben als Dicker.

Ich bin dick, seit ich denken kann. Schon mein Vater hat mich deshalb gehänselt. Er war Alkoholiker, womöglich habe ich die Suchtveranlagung von ihm. An meine Kindheit habe ich so gut wie keine Erinnerungen, das meiste habe ich verdrängt. Aber manche Dinge kann man einfach nicht vergessen. Wie zum Beispiel die Hänseleien und Beleidigungen, die ich mir wegen meines Gewichts schon als Kind anhören musste.

"Wenn der auf einem Pferd sitzt, dann bricht das zusammen", war einer der Lieblingssprüche meiner Klassenkameraden. Oft haben sie mich auch wie ein Mädchen behandelt und mir von hinten an die Brüste gefasst. Immer wieder haben sie gestichelt, denn das war ihre Taktik: mich in die Ecke zu drängen, um sich selbst mehr Raum zu geben.

Egal wo ich hinkomme, bin ich den Menschen wie Freiwild ausgeliefert. Sie denken: Ein Dicker ist faul und dumm. Es sind noch nicht einmal immer Worte, mit denen sie mir das zu verstehen geben. Meistens sind es ihre Blicke, an denen ich ablesen kann, was sie über mich denken.

Glaubt nicht, ich würde es nicht bemerken, wenn ihr eurem Partner sagt, er solle sich jetzt mal ganz unauffällig umdrehen. Ich spüre das, und es verletzt mich. Manchmal, wenn ich besonders wütend werde, starre ich zurück. Aber ich bin nicht der Typ, der euch zur Rede stellt. Davor habe ich zu viel Angst.

Wie viel wiegst du eigentlich?

Aus Angst vor den Blicken vermeide ich es, in der Öffentlichkeit zu essen. Viele ekelt es, wenn sie mich beim Essen sehen. Nicht, weil ich keine Manieren hätte, sondern einfach nur, weil ich so dick bin.

Ein anderes Thema sind die Stühle in den Restaurants. Als Dicker hat man es schwer, einen passenden Stuhl zu finden. Oft haben die Stühle Armlehnen, sodass ich nicht hineinkomme. Meistens suche ich mir dann eine Bank, aber wenn der Tisch fest montiert ist, habe ich auch da keine Chance. Ich muss immer improvisieren.

Selbst bei der Arbeit war mein Gewicht immer ein großes Thema. Mehrmals am Tag haben mich meine Kollegen darauf angesprochen und gefragt, ob ich heute wieder bauchfrei zur Arbeit gekommen sei. Dass es für mich sehr schwer ist, passende Kleidung zu finden, das versteht ihr natürlich nicht. Wie oft schon musste ich wie beiläufig am Ende eines Gesprächs die Frage hören: Wie viel wiegst du eigentlich? Das aber werde ich euch nicht verraten, denn dafür bin ich dann doch zu stolz.

Eine Maske, die vor Verletzungen schützt

Natürlich sieht es brutal aus, wenn ich bei der Arbeit auf dem Boden liege, um etwas zu verschrauben. Das ist aber kein Grund, mich mit einem Walross zu vergleichen. Und erst recht nicht, Fotos in solchen Situationen von mir zu machen, und diese dann im Firmennetzwerk zu veröffentlichen. Das ist verletzend, aber das interessiert euch ja nicht.

Längst habe ich mir deshalb angewöhnt, wenn ich aus dem Haus gehe, eine Maske aufzusetzen, eine Art Pokerface. Ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen, wenn ich wieder einmal verletzt wurde. Ich gebe mich cool und emotionslos. Meine Körpergröße hilft mir dabei. Zwar versuche ich meistens, den Menschen aus dem Weg zu gehen, doch wenn das nicht möglich ist, blicke ich über sie hinweg und starre in die Ferne. Manchmal verstecke ich mich auch hinter meinem Handy, tippe darauf herum, tue beschäftigt oder gebe mich als Ausländer aus, wenn mich dann doch mal ein blöder Spruch trifft.

Warum verletzt ihr mich?

Niemals würde ich auf das Oktoberfest gehen. Ich habe Angst vor Betrunkenen, die kein Blatt vor den Mund nehmen und mich gerne beleidigen, wenn ich an ihnen vorbeigehe. Ähnlich ist es mit dem Schwimmen. Ich würde gerne mal wieder in ein Schwimmbad gehen. Aber ich fürchte mich einfach zu sehr vor den Blicken und vor den Kindern, die ja immer gerne drauf losplappern. Es gibt zwar spezielle Abende für Dicke - aber selbst dort ist meine Angst zu groß, dass ich bloßgestellt werden könnte.

Ein relaxtes Leben habe ich nicht gerade. Bevor ich aus dem Haus gehe, gibt es so vieles, über das ich mir Gedanken machen muss. Und immer begleitet mich die Frage, welche Dinge ich in der Öffentlichkeit tun kann, ohne eure Blicke auf mich zu ziehen. Ihr bemerkt gar nicht, wie sehr ich mich in Gesellschaft zurücknehme, wie sehr ich mein Leben abhängig machen muss von euch und meiner Umgebung. Der einzige Ort, an dem ich wirklich sein kann, wie ich bin, ist zu Hause. Das wäre anders, wenn ihr mich nicht immer auf mein Äußeres, auf mein Dicksein reduzieren würdet.

Dem anderen eine Chance geben

Ich wünsche mir von euch, dass ihr euch auf das konzentriert, was ich kann, zum Beispiel, dass ich ein guter Elektroniker bin. Fixiert euch nicht zu sehr auf das Äußere. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass fast die Hälfte aller Menschen übergewichtig ist. Das heißt, dass ich nicht der Einzige bin und dass viele, die mich angreifen, selbst dick sind. Warum macht ihr das - um euch selbst besser zu fühlen? Darüber solltet ihr euch mal Gedanken machen.

Lasst mich in Ruhe, hört auf, mir wehzutun! Zeigt Toleranz, lasst andere so leben wie sie sind. Ich akzeptiere euch doch auch wie ihr seid. Hört auf, hinter meinem Rücken über mich zu sprechen, mich abzuscannen und in eine Schublade zu stecken. Sonst werdet ihr nie herausfinden, ob der andere vielleicht doch ein interessanter Mensch ist. Das merkt man erst, wenn man sich auf die andere Person einlässt.

Das Schönste wäre für mich, wenn ihr mir in die Augen sehen würdet. Ich weiß, dass viele Angst davor haben. Aber nur dann hat man die besten Chancen, zu sehen, wer der andere wirklich ist.

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung Ihrer Situation per E-Mail an: leben@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.

In dieser Serie kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht und welche Rolle wir dabei spielen - als nervige Kunden, ungeduldige Patienten, ignorante Mitmenschen.

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