Süddeutsche Zeitung

#WerkstattDemokratie:"Eine charmante Kriegserklärung an die Gegenwart"

Wir haben Sie gefragt, wie Sie wohnen wollen - und Ihre Utopien visualisiert. Hier sind die fertigen Entwürfe: vom Garten in der Wüste bis hin zu Containern auf Stelzen.

Von Jessy Asmus und Gerhard Matzig

Wie sieht Ihre ideale Wohnung, Ihr perfektes Haus aus, Ihre Wohnutopie aus? Das wollten wir im Rahmen der Werkstatt Demokratie zum Thema Wohnen von Ihnen wissen. Dutzende kreative und elaborierte Vorschläge unserer Leser sind in der vergangenen Woche eingegangen. Wir haben zwei sehr ungewöhnliche und zwei durchaus realisierbare Ideen für ein neues Wohnen ausgewählt.

Auf Basis der vier ausgewählten Beschreibungen hat unsere Illustratorin Jessy Asmus architektonische Phantom-Zeichnungen erstellt, die wir Ihnen hier vorstellen wollen. Und unser Architekturexperte, Gerhard Matzig, hat jeden Vorschlag für Sie eingeordnet.

Wohnen, wo die Wüste blüht

Was Gerhard Matzig dazu meint: Dies hier ist eine faszinierende Wohnvorstellung, die mich spontan an völlig unvergleichliche Dinge denken lässt. Nämlich erstens an die experimentellen Wohnbauten von Palm Springs, die nach dem Krieg unter anderem auch in der kalifornischen Sonora-Wüste entstanden sind. Zweitens an die organische Architektur etwa von Antoni Gaudí, drittens an alternative Dorfgründungen der Gegenwart - und viertens auch etwas an das Steintal (Bedrock), wo bekanntlich Familie Feuerstein wohnt. Der Entwurf verrät eine Sehnsucht nach einem anderen Leben: im Einklang mit der Natur, aufgehoben in einer Gemeinschaft - und ganz sicher "nicht rechteckig oder quadratisch". Angesichts des realen Bauens ist diese Vision auch eine charmante Kriegserklärung an die Gegenwart.

Wie Leser Naujokat seine Idee beschrieb: Ein kleines Häuschen in der Atacama-Wüste, daneben stehen ein paar weitere Häuschen. Die Häuschen sind locker beieinander angeordnet, wie auf einem Zeltplatz, ohne Symmetrie. Im Zentrum der vier bis fünf Häuschen befindet sich der Gemeinschaftsplatz. Jedes Häuschen unterscheidet sich in seiner Form. Die Formen sind nicht rechteckig oder quadratisch, sondern eher organisch. Sie passen sich der Umgebung an, gleichen bestimmten Bergen und Vulkanen der nahen Umgebung. Das Mauerwerk verliert sich langsam im Untergrund, sodass der Anschein entsteht, die Häuschen wären wie Bäume aus der Erde gewachsen. Das Mauerwerk besteht aus den Steinen und Felsen der Umgebung. Jeder Stein, jeder Fels unterscheidet sich vom anderen.

Die Häuschen haben große Fenster. Zum Garten, zur Terrasse eine große Glaswand. Farblich passen sich die Fensterrahmen dem Mauerwerk an, übernehmen die Farbverläufe und Schattierungen der angrenzenden Wand. Die Rahmen verschwinden optisch und werden zum Teil der Wand. Die Dächer sind flach und gleichzeitig als Balkon nutzbar. In großen Blumenkübeln stehen Bäume und Kakteen durcheinander verteilt auf dem Balkon. Dazwischen befinden sich kleine Nischen zum Beisammensitzen und Verweilen.

Eingerahmt werden die Häuser von sanfter Vegetation: einigen wenigen höheren Bäumen, dazu ein paar Sträucher, Kakteen in einer lockeren Anordnung. Der Garten übernimmt die Formen und Eigenheiten der unmittelbaren Umgebung. Es gibt ein paar bewässerte Bereiche, wo es sanft grünt, Gräser und Blumen eingestreut sind im Übergang zu sandig felsigen Bereichen. Der Übergang in die Landschaft wird durch keinerlei Abgrenzung definiert. Der Garten verliert sich wie das Haus in den Boden und scheint so mit ihm verwachsen zu sein. Der Garten besteht ebenso aus kleinen Nischen und Räumen, manche versteckt, manche offen. Die Wege werden sanft mit Steinen und Felsen in den Boden integriert, ohne dass sie zu sehr ins Auge fallen.

Der Gemeinschaftsraum zwischen den Häuschen gleicht im Aufbau und Gestalt den Gärten, ist jedoch bedeutend offener mit weniger versteckten kleinen Nischen und dient als architektonisches Bindeglied der Menschen vor Ort. Im Zentrum des öffentlichen Raumes steht ein großer Baum, unter ihm befinden sich Tische und Stühle, jedes ein Einzelstück aus verschiedenen Epochen. Wir sind insgesamt 15 bis 20 Personen, bunt gemischt bezüglich des Alters und Geschlechts.

Radikal digital

Was Gerhard Matzig dazu meint: Wie sähe ein Wohnen aus, das auf die großen, global wirksamen Schubkräfte reagiert, also auf Klimawandel, Bevölkerungswachstum oder Digitalisierung, zudem auf Individualisierung und (trotz Trump) Entgrenzung? Der Entwurf bietet ein bemerkenswertes Setting: einen Wohnraum, der ohne herkömmliche Außenwände (dafür mit netzartigen, semitransparenten und biologisch abbaubaren "Gittern" zum Schutz vor Schadstoffen) auskommt, also die Grenze zwischen drinnen und draußen aufhebt. Das Wohnen selbst wird zudem minimiert und radikal digitalisiert. Der Entwurf denkt Wohnen interessanterweise eher in Zonen oder Bereichen statt in Zimmern. Am schönsten finde ich jedoch den Schlaf-Alkoven. Die "Mupfel" aus "Urmel aus dem Eis" lässt grüßen.

Wie Leser Mattias Morgenstern seine Idee beschrieb: Meine Utopie richtet sich an drei Veränderungs-Phänomenen aus: Klimaerwärmung, Bevölkerungswachstum, digitale Transformation: Ein utopisches Haus verfügt statt Außenwänden über dichte, semitransparente Pollenschutzgitter, die Schadstoffe und Regen abhalten, Sauerstoff jedoch passieren lassen. Schlafräume gibt es nicht mehr, stattdessen kleine Alkoven, die im Schlaf Körperfunktionen messen und beeinflussen. Hauptraum ist ein großes, betretbares Virtual-Reality-Gerät, in dem der Hauptteil der Lebenszeit mit zwischenmenschlichen Interaktionen im Cyberspace und Remote Work verbracht wird. Ein kleines Meditations- und Fitnessabteil sorgt für körperlichen Ausgleich. Offline-Begegnungen finden in der Stadt statt. Einen Partner mit nach Hause zu nehmen wird in einer hoch-individualisierten Zeit ungewöhnlich, das Haus wird zum Refugium. Die gesicherten Alkoven erfüllen nachts das Schutzbedürfnis.

In einer Welt der Klimaerwärmung (und damit Abflachen von Jahreszeiten und Erhöhung der Außentemperatur) verlieren klassische Eigenschaften von Gebäuden, wie Witterungsschutz und Isolationsfähigkeit, an Bedeutung. Wichtiger wird dagegen eine Abschirmung gegen Schadstoffe in der Umluft und eine Effizienzsteigerung der Wohnfläche - dem Bevölkerungswachstum geschuldet. Durch Ersatz der Außenwände durch dichte Filtergitter (biologisch abbaubar und alle paar Jahre austauschbar) ist die dauerhafte Frischluftzufuhr im Innenraum gesichert, man spart Platz und der Bewohner hat das Gefühl, näher mit der Umwelt verbunden zu sein.

Mehrere Menschen im selben Gebäude beziehungsweise hohe Stockwerke würden dem Individualismus-Anspruch ab der oberen Mittelschicht nicht gerecht. Küche und Esszimmer wurden ebenfalls aus Platzeffizienz wegrationalisiert, Essen zubereiten und einnehmen sind reine Hygienefaktoren, die schnell erledigt werden, der Hauptteil des Platzes (und der Lebenszeit) entfällt auf zwischenmenschliche Interaktionen im Cyberspace. Das Bewegungsbedürfnis des Körpers wird im 3D-immersiven Cyberspace oder im Fitnessraum (höchstens ein Multifunktionsgerät) bedient. Hat man ein Bedürfnis nach menschlicher Nähe und Kommunikation, trifft man sich im Cyberspace oder in einer der Städte. Strom liefern Energiespeicher im Boden, die über Leitungen von dezentralen Kraftwerken (und den motorischen Bewegungen im Fitnessraum und VR-Gerät) geladen werden. Essen kommt zu stoffwechseloptimierten Zeiten per Drohne, die auch den Müll wieder entsorgt. Wasser wird über Mikrobrunnen im Boden entnommen.

Was Gerhard Matzig dazu meint: Ein genialer Plan - Wohnungen dort einrichten, wo Strukturen nicht mehr genutzt werden. Zum Beispiel könnte man auf einem zum Teil stillgelegten Werftgelände das konstruktive Tragwerk von Verladekränen, die man nicht mehr braucht, zum Wohnungs-Um- und Neubau benutzen. Das ist radikal ökologisch, ökonomisch vernünftig und sehr smart. Für mich, der ich in der vorgestrigsten und spießigsten aller Wohnformen lebe, im Einfamilienhaus am Rande der Stadt, ist das die schönste Vorstellung von einer Zukunft, in der das Wohnen postindustrielle Strukturen wie im Ritzenbiotop überwuchert. Konversion statt Gentrifizierung!

Wie Leserin Sylvia Markert ihre Idee beschrieb: Ich wohne in Helsinki und es gibt im Süden der Stadt ein Werftgelände, welches nur noch in Teilen genutzt wird. In dem unbenutzten Teil stehen zwei alte circa 30 Meter hohe Kräne. Immer wenn ich unter diesen Kränen durchgehe, träume ich davon, einen davon in ein Wohnhaus umzubauen. Der Kran hat unter der Führerhausebene zwei weitere Ebenen, welche circa 20 mal 20 Meter groß sind. Ich würde beide Ebenen mit Glas verkleiden und diese mit einer Treppe in der Mitte verbinden. Die Führerhausebene wäre eine Terrasse mit viel Grün.

Asterix trifft Buckminster Fuller

Was Gerhard Matzig meint: Nicht daheim und doch nicht an der frischen Luft - was eigentlich eine alte Literaten-Definition für das Wiener Kaffeehaus ist, macht sich dieser Entwurf für das Wohnen zunutze: "Schlechtes Wetter bleibt draußen und trotzdem kann man flanieren." Das könnte zwar auch auf eine simple Shopping Mall zutreffen, aber in diesem Fall wird eine alte Fabrikhalle zum Stadtraum umgewidmet. Das Leben in diesem Raum wird als malerisch beschrieben, Stichwort "Bierchen genießen". Im Grunde ist das die Verbindung aus dem Dorf von Asterix mit der Raumdefinition von Richard Buckminster Fuller. Und das Ganze in einer alten Fabrik - eine schöne Utopie.

Wie Leser Postit seine Idee beschrieb: Ich würde gerne eine modulare, mehrgeschossige Wohnanlage in eine große, alte Fabrikhalle packen. Eine mit einem alten Glasdach, durch das die Sonne scheint. Die Anlage sollte einen kleinen Stadtplatz in der Mitte haben, an dem sich die Bewohner treffen können. Kleine Wege mäandern zwischen den Stelzen von Palisadenhäusern. Sie sind mit weißem Kies gestreut und bilden einen schönen Kontrast zu den dunkelgrünen Hecken. Oben, zwischen den Häusern, gibt es kleine Hängebrücken und frei schwebende Rundgänge, auf denen man von einem Nachbarn zum anderen spazieren kann. Auf Terrassen kann man sich treffen und Brettspiele spielen oder ein gemeinsames Bierchen genießen. Überall gibt es verschwiegene Ecken mit kleinen Gärten, verwunschenen Teichen, Orten zum Verweilen.

Die Anlage ist aus Containern aufgebaut, an die immer weitere angeflanscht werden können. Hochkant, quer, schräg. Entweder wenn jemand neu dazu kommt, oder wenn man sich verändern möchte. Ganz oben gibt es einen halben Container mit Wasser gefüllt, dort treffen sich die Leute, wenn sie mal ein paar Bahnen schwimmen möchten. Aber das meiste Leben spielt sich draußen, außerhalb der Halle ab. Auf einem alten Fabrikgelände mit Werkstätten, Sportplätzen, auf verwitterten Betonplatten, zwischen denen schon die ersten Grashalme vorbrechen. Alles atmet den verwunschenen Charme früherer Größe, als hier noch gearbeitet wurde.

Ich mag Zweckentfremdung und Neuverwendung. Dinge, die einmal wichtig für etwas ganz Spezielles waren und jetzt wieder wichtig für etwas ganz Anderes sind. Mit gefällt auch die Idee, den natürlichen Schutzraum von großen Hallen zu nutzen. Schlechtes Wetter bleibt draußen und trotzdem kann man flanieren und sitzt nicht in einer Wohnung fest. Die bitterste Kälte bleibt auch draußen, man müsste mal die Energiebilanz durchrechnen, wenn man draußen Solarplatten aufstellt.

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