Süddeutsche Zeitung

Wenn Kinder den Kontakt abbrechen:Mutterseele allein

Vor viereinhalb Jahren wurde Angelika Kindt von ihrer erwachsenen Tochter verlassen. Bis heute rätselt die Mutter über die Gründe für die plötzliche Ablehnung. Zu den "vielen Fragezeichen" kommen die schiefen Blicke anderer.

Johanna Bruckner

Früher, erzählt Angelika Kindt, habe sie sich nie viel aus dem Muttertag gemacht. Bis zum 20. November 2006, dem Tag, an dem eines ihrer Kinder den Kontakt zu ihr abgebrochen hat. Seit ihre Tochter Maya ihr das "Eltern-Kind-Verhältnis gekündigt" hat, wie die Münchner Diplom-Politologin in ihrem Buch Wenn Kinder den Kontakt abbrechen schreibt, ist der Muttertag ein schwieriges Datum für die 60-Jährige.

"Seitdem mir das passiert ist, achte ich darauf", sagt Kindt im Gespräch mit sueddeutsche.de. "Das" war eine E-Mail ihrer damals 26-jährigen Tochter, Betreff: hallo. Was folgt sind Vorwürfe an die Mutter: du änderst dich nie ... - ... du willst mir deinen willen aufzwängen ... - ... ich habe mein eigenes leben ... - ... du nimmst mir die luft zum atmen, zitiert Kindt in ihrem Buch aus der für sie überraschenden und fristlosen elektronischen Kündigung. Die endet mit: für eine gemeinsame zukunft sehe ich keine möglichkeit ... Maya.

Familiäre Bande werden nicht so einfach gekappt

Warum sollten Kinder den Kontakt zu ihren Eltern bewusst und komplett abbrechen? "Blut ist dicker als Wasser" und "Seine Familie kann man sich nicht aussuchen" sind Alltagsweisheiten, die auch heute noch gelten. Der gesellschaftliche Konsens lautet, dass familiäre Bande nicht einfach so gekappt werden, Probleme hin oder her.

"Ich habe bis dato nicht gewusst, dass es so etwas gibt", sagt Kindt. Nach einer dreijährigen Phase der Verdrängung und Verleugnung - auf Nachfragen erzählte sie, ihre Tochter habe einfach viel zu tun - hat sie sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, den Kontakt zu anderen Betroffenen gesucht, eine eigene Homepage ins Leben gerufen. Sie schätzt die Dunkelziffer verlassener Eltern auf 100.000. Auch Christina Gschwendtner, die in München als psychologische Beraterin mit Schwerpunkt Familientherapie arbeitet, bestätigt im Gespräch mit sueddeutsche.de: "Das gibt es immer mal wieder, dass Kinder den Kontakt abbrechen."

Hoher Erwartungsdruck, Alkoholismus innerhalb der Familie oder (sexueller) Missbrauch sind in der Familientherapie bekannte Gründe für einen Kontaktabbruch von Kinderseite. Doch es gibt auch Fälle, in denen die Entscheidung der Kinder die Eltern "eiskalt" treffe, weil aus Sicht der Mütter und Väter bis dato alles in Ordnung schien, sagt Psychologin Gschwendtner. Die Unsicherheit, in der die Betroffenen lebten, lasse sich mit der Situation von Eltern vergleichen, deren Kinder verschwunden sind.

Gleichzeitig müssen die verlassenen Eltern jedoch mit der Gewissheit leben, dass die Trennung vom eigenen Kind bewusst herbeigeführt wurde.

Angelika Kindt hat die Kündigung ihrer Tochter anfangs für einen Scherz gehalten. "Es gab keinen Anlass, keinen Grund, den Kontakt abzubrechen." In ihrem Buch rekapituliert die Mutter die Familiengeschichte bis zu jenem Donnerstag vor viereinhalb Jahren: Ursachenforschung.

Mit 19 Jahren ist Kindt bereits das erste Mal verheiratet, Sohn Max wird geboren. Zu ihm hat sie bis heute ein gutes Verhältnis. Doch die junge Frau hat Ziele und Träume abseits von Eheleben und Mutterschaft: Mit Ende zwanzig erwirbt sie auf dem dritten Bildungsweg die Hochschulreife und beginnt, Politik zu studieren. Noch während des Studiums wird sie erneut schwanger, diesmal mit Zwillingen, "absolute Wunschkinder", sagt Kindt im Rückblick.

Die kleinen Mädchen kommen 1979 auf die Welt. Die eine, Julie, ist schwer herzkrank und stirbt vier Monate nach der Geburt. Zurück bleibt Maya.

"Ich war nie Chauffeuse"

Sie ist von nun an der Augapfel der Familie, wird von Vater, Bruder und natürlich der Mutter verwöhnt. Jeden Wunsch las ich ihr von den Augen ab, zumindest erscheint es mir rückblickend so, schreibt Kindt in ihrem Buch. Zum bestandenen Führerschein gibt es ein Auto: Wahrscheinlich war das zu viel, und vielleicht wollte ich ihr einfach nur das geben, was ich gerne zweien gegeben hätte, resümiert Kindt selbstkritisch.

Ist Mayas Kontaktabbruch also vielleicht ein Befreiungsschlag von der überfürsorglichen Mutter?

Kindt hat diesen Vorwurf schon oft gehört, auch von Freunden. Nein, sie sei nie eine dieser Mütter gewesen, deren einziger Lebensinhalt darin besteht, die Sprösslinge von Freizeitbeschäftigung zu Freizeitbeschäftigung zu kutschieren, sagt sie. "Ich wollte meine Kinder zu selbständigen erwachsenen Menschen erziehen."

Neben der Erziehung von Max und Maya baut sie sich eine eigene Karriere auf, ist viel unterwegs. Im Sommer vor der Schicksals-E-Mail wirft Maya ihr vor, "keine echte Mutter zu sein". Sie hatte bestimmte Vorstellungen, wie eine echte Mutter zu sein hat: eine Frau, die sich aufopfert für ihre Kinder und nicht berufstätig ist, heißt es im Buch.

Wenn alle anderen Erklärungen ausgeschlossen werden können, stehe hinter dem Kontaktabbruch der Kinder häufig ein Identitätskonflikt, erklärt Diplom-Psychologin Gschwendtner. Die betroffenen Eltern seien oft starke Persönlichkeiten. Kinder, die im Schatten solcher Dominanz aufwachsen, sähen zur eigenen Identitätsbildung manchmal keine andere Möglichkeit als die vollständige Loslösung, so die Expertin. "Das ist ein Schutzmechanismus."

Dabei seien die Kinder den Eltern häufig ähnlicher als beiden bewusst sei: "Die Eltern haben ihr Erziehungsziel verwirklicht, nämlich, selbstbewusste Kinder heranzuziehen, die ihren eigenen Weg gehen." Dass dieser Weg bisweilen auch als Einbahnstraße vom Elternhaus wegführt, hat laut Gschwendtner auch mit der Individualisierung der Gesellschaft zu tun.

Junge Leute ergreifen nicht nur ihren Traumjob, anstatt in den elterlichen Betrieb einzutreten, sie suchen sich sehr wohl auch ihre Familie(n) aus. Wenn vor diesem Hintergrund eine Tochter den Kontakt zur Mutter abbricht, weil diese ihrem Idealbild nicht entspricht, mag einem das als Außenstehender sogar als Antwort auf das "Warum" genügen. Für die involvierten Eltern ist es freilich nicht so einfach.

"Es ist, als ob Sie mit dem Kopf wieder und wieder gegen eine Wand rennen würden", beschreibt Traute Schnyder, eine andere betroffene Mutter, im Schweizer Magazin Beobachter das destruktive Gedankenkarussel aus Selbstvorwürfen. Zum Gefühl, als Mutter beziehungsweise Vater versagt zu haben, kommt das Unverständnis des Umfelds. "Das kann doch gar nicht sein. Das gibt's nicht", sind Sätze, die Kindt häufig zu hören bekommt, wenn sie ihre Geschichte erzählt. "Mies" fühle man sich da, "ausgeschlossen und diskriminiert". Das Thema sei ein Tabu, sagt Schnyder, die in der Schweiz eine Selbsthilfegruppe gegründet hat.

Auch in Deutschland haben sich Betroffene zusammengeschlossen: "Verlassene Eltern" ist eine in Hilden bei Düsseldorf gegründete Selbsthilfegruppe - nach eigener Aussage die erste und einzige hierzulande. Mittlerweile gibt es Ableger in anderen deutschen Städten, der Bedarf scheint da. Man verzeichne Zugriffe von bis zu 80.000 Klicks pro Jahr, heißt es auf der Homepage der Gruppe.

Die Furcht, das Kind noch weiter fortzutreiben

Dort gibt es auch einen "Klick für Töchter/Söhne", mit der Bitte um Tipps und Informationen an die verlassenen Eltern. Angelika Kindt hat für sich bis heute keine befriedigende Erklärung für Mayas Verhalten gefunden. Journalisten, die die Tochter selbst nach ihren Motiven befragen wollen, erteilt sie eine Absage. Sie habe zwar noch eine Adresse, wisse aber nicht, ob die noch aktuell sei. Und dann ist da die Furcht, ihr Kind noch weiter von sich fortzutreiben, indem sie es mit dem Kontaktabbruch konfrontiert.

Die 60-Jährige hat mittlerweile eine Therapie gemacht: In erster Linie, sagt sie, für sich - aber irgendwo scheint da auch die Hoffnung zu sein, sich so zu ändern, dass die Tochter wieder Tochter sein will.

Das Ende ihres Buches hat sie Maya gewidmet: Sei versichert, die Tür bleibt für Dich immer geöffnet, heißt es da. Selbst nach der Tochter zu suchen, an Mayas Tür zu klopfen, kommt für die Mutter allerdings nicht in Frage - noch nicht. Zu groß ist die Angst vor direkter Ablehnung: "Sie stellen sich ja auch nicht vor das Haus eines Liebhabers, der sie verlassen hat."

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