Wenn Frauen nicht mehr fahren:Angsthäschen am Steuer

Eine Million Deutsche fahren nicht mehr Auto, obwohl sie einen Führerschein haben - die meisten von ihnen sind weiblich. Über die Panik von Frauen vor dem Steuer, schneeverwehte Bushaltestellen und einfühlsame "Schaffen-wir"-Fahrschulen.

Sarah Kahn

Frauen, die nicht Auto fahren, ziehen nicht aufs Land, wo es ein Auto braucht. Sie kaufen sich vernünftige Schuhe und ein gutes Fahrrad, es darf ruhig etwas kosten. Ich habe einen Führerschein, aber ich fahre nicht.

Frau, Auto, Steuer, Verkehr, Mobilität, Studie

Kein Unfall, nicht geblitzt, keine Strafzettel - Autofahren bedeutet, dass man es mit dem Leben hinkriegt.

(Foto: Harmen Piekema)

Was das Autofahren angeht, bin ich wie meine Schwiegermutter geworden. Sie fuhr zunächst nur in der Stadt, mit Automatik, keine Autobahn. So fing es bei mir auch an. Sie ließ sich am Wochenende von ihrem Ehemann herumfahren. Ich auch, von ihrem Sohn. Sie hörte nach einem kleinen Unfall ganz auf. Ich auch, nachts beim Einparken bin ich seitlich voll in einen wunderschönen BMW rein. Gott sei Dank fuhr ich einen Mietwagen mit Vollkasko. Seither fahre ich nicht mehr.

Selbst als die Kinder kamen und ich im Winter von Schneewehen umtost mit Baby und Kleinkind an Bushaltestellen wartete, während unser Auto gemütlich vor der Haustür parkte, war ich nicht verführt. Ich kaufte für zweitausend Euro ein buntes Lastenfahrrad, mit dem ich Kinder, Einkäufe und Sandspielzeug bequem zu Spielplätzen, Kitas und Supermärkten steuern konnte. Es machte einen Riesenspaß, ich kam in der Stadt rum und Passanten lächelten uns zu. Doch es war ein schlimmer Moment, als mich meine Tochter mitten im Verkehr fragte: "Mama, können auch Frauen Autos fahren?"

"Natürlich können Frauen Autos fahren. Wenn du mal groß bist, wirst du eine ganz tolle Autofahrerin! Die meisten Frauen können viel besser als Männer fahren. Männer sind ganz schlechte Fahrer und machen die meisten schrecklichen Unfälle in der Welt." Ein Nachbar, der mithörte, rief laut: "Na, na, was sind das für Indoktrinationen?" Was das für Indoktrinationen sind? Lesen Sie mal den Eintrag bei Stupidedia - dem Internet-Portal für das geheime Wissen der Nerds - zum Thema "Frauenführerschein". Er gipfelt in dem Satz: "In manchen Restaurants gibt es die auch zum Salat geschenkt."

Es geht hier um ein Thema, das, was Vorurteile angeht, noch ganz im Saft steht. Das Thema "Frauen und Autos" ist das letzte große Schlachtfeld der Geschlechter. Es gibt keine Untersuchungen zur Verbreitung des Fahrverzichtes in der Bevölkerung, doch Schätzungen von Psychologen kommen auf die Zahl von einer Million Deutsche, die nicht mehr fahren, obwohl ein Führerschein vorhanden ist. In allen Publikationen zum Thema wird betont, dass vor allem Frauen betroffen sind - nicht weniger als achtzig Prozent.

Sie empfinden die Autobahn als LSD-artige Erfahrung, eine Art Nachtblindheit macht sich zunehmend bemerkbar, sie sehen Kurven, wo keine sind, sie kommen nicht in Fahrfluss. Und sie werden damit konfrontiert, dass die Vorsichtsmaßnahme, lieber nicht zu fahren, gleich alles bedeuten soll: Die kriegen auch sonst nix geregelt, die sind immer abhängig, die machen es sich durch Verweigerung bequem im Leben.

Autofahren bedeutet, dass man es mit dem Leben hinkriegt. Kein Unfall, nicht geblitzt, keine Strafzettel", sagt mir eine Freundin, die sehr gerne Auto fährt und regelmäßig Grüße vom Polizeipräsidenten in der Post findet. "Man muss funktionieren." Wer funktionieren will, kann Hilfe bekommen. Unter dem Sammelbegriff "Fahrängste" gibt es - vor allem in urbanen Gegenden - Kurse, Gesprächskreise und Verständnis. Für die Generation meiner Schwiegermutter gab es so viel Aufmunterung noch nicht.

Fahrschulen bieten "Angsthasen-Betreuung"

Die "Schaffen wir"-Fahrschule von Fahrlehrer Frank Müller in Berlin-Neukölln hat sich auf "Angsthasen-Betreuung" spezialisiert. Herr Müller veranstaltet auch alle zwei Monate einen gemütlichen Nachmittag mit Kaffee und Keksen, bei dem er über die "Schaffen-wir-Methode" bzw. den "Angsthasen-Fahrstil" informiert. Sogar ein Buch hat er geschrieben, zusammen mit einem Verhaltenstherapeuten: "Keine Angst mehr hinterm Steuer".

Manche haben dringende Gründe wieder zu fahren

Bei dem Gedanken an einen einfühlsamen Fahrlehrer schüttelt es mich. Mein alter Fahrlehrer war noch alte Schule, frauenfeindlich, ungepflegt, schlecht riechend. Händchenhalten auf dem Knüppel der Gangschaltung war seine Foltermethode, in Horrorfilmen hätte er es weit bringen können. Nun hoppele ich etwas missmutig die Sonnenallee herunter und folge dem Pfad der Angsthäsinnen. Ich bin die erste im Stall. Herr Müller bereitet noch die Keksteller, befüllt Thermoskannen und stellt Kondensmilch auf. Er ist grauhaarig, trägt eine graue Fahrlehrerjacke und einen Fahrlehrerbart. Er sagt, er betreue bis zu achtzig Angsthasen im Jahr, seit zwanzig Jahren schon. Heute erwarte er mindestens acht Frauen.

Und wieso wollen die unbedingt wieder fahren?", frage ich ihn. "Sie haben meist drängende Motive", sagt Müller. "Sie haben Pflegefälle in der Familie, oder der Partner wurde krank. Ihr Beruf ist nur nachts auszuüben, und man kann nicht Bahn fahren. Oder sie haben eine neue berufliche Strecke, sind Landbewohner geworden."

Das sind triftige Gründe", gebe ich zu. "Aber wieso sind fast nur Frauen von Fahrängsten betroffen?"

Man sollte sich möglichst wenig Gedanken machen", antwortet er. "Viele Frauen denken zu viel. Das verträgt sich nicht." Er habe auch männliche Klienten, etwa zehn Prozent, sogar ein Autohändler sei dabei, dem die Berufsunfähigkeit drohe. Doch die Männer kämen nicht zum Keksnachmittag. "Die wollen sich vor den Damen nicht outen."

Mittlerweile hat sich der kleine Schulungsraum, der mit Lehrtafeln, Verkehrsschildern und einer kümmerlichen Yucca-Palme dekoriert ist, gefüllt. Wir sitzen im Kreis, neun Frauen und ein Fahrlehrer, jeder hält einen Becher Kaffee in der Hand. Eine Angsthäsin, Anfang 20, erzählt: Der Vater fährt nicht, nur die Mutter. Sie ist einmal durchgefallen, doch jetzt will sie eine Ausbildung zur Rettungsassistentin machen, da braucht sie den Führerschein. Sie hat Angst vor der Autobahn. Ihr erster Fahrlehrer konnte damit nicht umgehen. Als sie auf der Autobahn zu heulen anfing, schrie er sie an.

Typische Gedankenblockaden

Sie berichtet mit zittriger Stimme von der Fahrprüfung. "Der Prüfer hat gesagt, ich fahre zu langsam. Wenn ich zu langsam fahre, kriege ich keinen Führerschein. Wenn ich schnell fahre, brettere ich vielleicht einen Radfahrer um?!" "Das ist eine typische Gedankenblockade," sagt Frank Müller. "Ein wahnsinniger Druck entsteht, und natürlich steigt man irgendwann aus."

Ich frage die junge Rettungsassistentin in spe, ob sie nie daran gedacht habe, dass sich ihre Autobahnängste verstärken können, wenn sie in ihrem zukünftigen Beruf die Opfer schrecklichster Verkehrsunfälle zu sehen bekommt? Sie schüttelt den Kopf. Nein. Bei ihrer Angst gehe es um die Geschwindigkeit, nicht um eine Unfallbedrohung. Ein interessante Unterscheidung, denke ich. Sind die Emotionen in uns oder auf der Autobahn?

Oder doch lieber Taxi?

Das kleine Übel lautet: langsam fahren", sagt Fahrlehrer Müller. "Das schwere Übel: schnell fahren." Er erläutert den Angsthasen-Fahrstil. Angefangen wird im Gewerbegebiet, da gibt es Parkplätze so groß wie das Winterquartier von Circus Krone und praktisch keinen Gegenverkehr. Aber irgendwann muss man doch Gas geben, rauf auf die Autobahn, was dann? "Wenn auf der Stadtautobahn 80 km/h gilt, dann fährt der Angsthase eben nur 60. Aber nicht 30 oder 20 - da hab' ich selbst Angst", sagt Müller.

Auch mal auf dem Seitenstreifen fahren

Oft gibt es Angst beim Einfahren auf die Autobahn. Deshalb fährt Müller mit seinen Fahrschülern zunächst zu einem Beobachtungsposten auf einer Autobahnbrücke. "Da kann man wunderbar zugucken und sieht - es geht immer." Der Angsthasen-Fahrstil übt bewusst das langsame Einfahren. "Fix reinfahren in die Autobahn - das wird so gelehrt in normalen Fahrschulen, und auch die Prüfer erwarten es so. Wir üben den Seitenstreifen zu benutzen. Das macht sonst keine Fahrschule. Aber wir benutzen den Seitenstreifen."

Würde der Angsthasen-Fahrstil dazu führen, dass man bei der Prüfung durchfällt?", frage ich. "Im Grunde ja", antwortet Müller. "Doch viele, die herkommen, haben ja einen Führerschein. Diejenigen, die ihn brauchen, müssen in der Kompetenz zulegen." Doch er kann auch einen Wandel in der Prüfungskultur feststellen, jedenfalls in Berlin. "Wenn der Prüfling eine kurze Pause braucht oder während der Fahrt mit sich selber spricht, das findet heute mehr Akzeptanz." Mit sich selber sprechen. Sich mit kleinen Tricks beruhigen, damit die Emotionen nicht überhand nehmen. Die eigene Angst einschätzen, auf einer Skala. "Eins ist ruhig, zehn ist Panik", sagt Müller. "Man kann lernen, es bis zur Angststufe vier auszuhalten. Und wenn man mal hundert Kilometer zum Spreewald und zurück fährt, werden die Ängste blasser."

Eine Angsthäsin, über 50 und seit einigen Wochen bei Müller im Training, sagt einen Satz, den wohl nur Angsthasen verstehen: "Ich kann jetzt an der Ampel stehen." Sie kann das, ohne zu überlegen, was mache ich bloß, wenn die hupen. Sie hat ihr Leben lang auf Mobilität verzichtet, beim Einkaufen, im Urlaub. Nun erfüllt sich eine große Sehnsucht. "Ich kann jetzt an der Ampel stehen."

So sollte Fahrschule sein

Eine unscheinbare, altmodische Fahrschule, ein netter Lehrer und so tapfere Frauen, die ihr Leben verändern. Bevor die Rührung uns übermannt, belüftet Müller die Atmosphäre mit einer Anekdote aus dem brutalen Berliner Verkehr. Damals auf dem Stadtring: Eine Entenfamilie überquerte sie, ein Laster bremste, ein weiterer Laster wich aus und überschlug sich, Öl lief aus, eine Million Euro Schaden, keine Toten, und die Entenfamilie kam sicher auf die andere Seite.

Wir lachen. So sollte Fahrschule sein. Nicht erst auf dem zweiten Bildungsweg. Vielleicht haben all die Menschen, die dem Auto abgeschworen haben, eine miese Ausbildung bekommen, in der Nachdenklichkeit und Verzagtheit keinen Platz hatten. Sie sollten fahren, als gäbe es keine Probleme. Vielleicht ist das die Antwort auf die Frage, wieso sich vor allem Frauen mit dem Autofahren quälen: Sie benötigen eine andere Ausbildung, eine Art Stressmanagement - gesprächsorientiert, humorvoll, vorurteilsfrei.

Eine ältere Angsthäsin schafft es am Schluss, die Rührung in den Herzen nochmals zu steigern. Sie ist nun in Rente und möchte sich ein Wohnmobil kaufen, um es in neue Abenteuer zu steuern: "Ich hatte ein Negativbild von der Gesellschaft, das hat sich verbessert, seit ich hier bin. Es gibt viele nette Leute da draußen. Die wollen auch nur sicher nach Hause."

Ich fahre auch sicher nach Hause, mit der U-Bahn. Mein Auto, das ich noch nie gefahren bin, steht vor der Tür. Es ist alt geworden und schmuddelig von all den Lebensmitteln und Getränken, die wir über Jahre in die Sitze und Polster eingearbeitet haben. Ich bekomme immer ein gutes Gefühl, wenn ich es sehe, eine Ernie-Puppe hängt am Rückspiegel, die Dschungelbuch-Kassette schon dreitausendmal gespielt, unsere besten Jahre.

Wir überlegen nun, ob ein Leben auch ohne Auto geht. Natürlich geht das, in der Stadt. Man kann mieten, man kann das Rad nehmen, man kann öffentlich - und rufen wir nicht sowieso oft ein Taxi? Dennoch bin ich skeptisch, skeptischer als mein Mann. Ein Leben ohne Auto? Noch steht es vor der Tür. Werde ich es je fahren, bevor es auf dem Schrottplatz landet?

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: