Wenn die Großeltern die Eltern sind:"Ohne Familie bist du nichts"

Wenn die Großeltern die Eltern sind: Edina D.: Ihre Mutter bemühte sich nicht um sie. Ihr Vater versuchte sie zu vergewaltigen.

Edina D.: Ihre Mutter bemühte sich nicht um sie. Ihr Vater versuchte sie zu vergewaltigen.

(Foto: privat)

Ihre Mutter bemühte sich nicht um sie. Ihr Vater versuchte sie zu vergewaltigen. Edina D. über ihre Erfahrungen als ungewolltes Kind in der Serie "ÜberLeben".

Protokoll von Vanja Bojanic

An den Tag, als mich meine Mutter verließ, erinnere ich mich noch - auch wenn ich da gerade mal zwei Jahre alt war. Sie kam in das Wohnzimmer meiner Großeltern und redete lange mit ihnen. Als sie sich dann zu mir ins Kinderbett beugte, um sich zu verabschieden, liefen ihr die Tränen. Bis heute hat sich dieser Moment bei mir eingebrannt.

Von meinem leiblichen Vater hatte sich meine Mutter bereits vor meiner Geburt getrennt. Er habe nicht für uns beide sorgen können. Doch für uns sorgen konnte auch sie nicht. Ihr neuer Freund war kriminell und drohte, sie umzubringen. Um sich zu schützen, musste sie untertauchen und mich bei ihren Eltern in Frankfurt am Main zurücklassen. Zumindest behauptet sie das heute rückblickend so.

Ich war sechs, als sie wieder ein erstes Lebenszeichen von sich gab. In Italien hatte sie sich in den vergangenen vier Jahren ein neues Leben aufgebaut. Nun wollte sie mich zu sich holen.

Aber das ließen meine Großeltern nicht zu. Sie hatten eine lange Schlacht mit dem Jugendamt geschlagen, um das Sorgerecht für mich zu erhalten, beide waren zu dem Zeitpunkt fast 60 Jahre alt. Hinzu kam, dass mein Großvater als LKW-Fahrer Alleinverdiener war. Alles keine leichten Bedingungen, um ein kleines Kind großzuziehen. Aber sie wollten mich. Und schließlich willigte auch meine Mutter ein.

Du bist zu verschmust

Als ich acht Jahre alt war, kam meine Mutter erstmals zu Besuch - und bemühte sich wieder um mich. Doch bald nahm die Distanz wieder zu. "Du bist zu verschmust", sagte sie mir, als ich sie einmal in Italien besuchte. Dabei sehnte ich mich nach ihrer Liebe und Nähe.

Ich erinnere mich an einen Abend, als ich mit ihr und ihrem neuen Partner in einem Restaurant zu Abend aß. Die beiden gaben sich einen Kuss. Ich bestand darauf, auch von meiner Mutter liebkost zu werden. Doch sie reagierte nur genervt: "Wenn du so weitermachst, dann schicke ich dich zurück nach Deutschland."

Eine richtige Tochter-Mutter-Beziehung war das also nicht wirklich, und das ist bis heute so. Ich respektiere meine Mutter, doch tiefe Gefühle empfinde ich für sie nicht. Die Enttäuschung ist zu groß.

Die Enttäuschung, als ich meinen Vater kennenlernte

Noch größer wurde die Enttäuschung, als ich meinen Vater kennenlernte. Eines Tages klingelte das Telefon und eine Frauenstimme sagte: "Hallo Edina, hier ist deine Stiefmutter. Ich rufe an, weil dein Vater dich kennenlernen möchte."

Mein Vater hatte befürchtet, dass meine Großeltern den Hörer wieder auflegen würde, wäre er am Telefon gewesen und deswegen ließ er seine Frau anrufen. Vor allem vor Opa hatte er Angst gehabt. Schließlich hatte er ihm damals noch nicht mal den Gefallen getan, ins Krankenhaus zu kommen, um meine Geburtsurkunde zu unterschreiben. Und jetzt waren so viele Jahre vergangen, seitdem sie sich gesehen hatten. Doch letztendlich hatte er nichts zu befürchten. Oma und Opa waren nicht abweisend, als er uns das erste Mal besuchte.

Zwei Tage nach meinem fünfzehnten Geburtstag klingelte es an der Tür und er stand vor mir. Er war groß, hatte breite Schultern und wirkte in seinem langen schwarzen Mantel überwältigend. Er war so, wie ich ihn mir immer vorgestellt hatte. Als er mich dann in seine Arme nahm, war ich überglücklich.

Wir verbrachten den ganzen Tag zusammen. Wir gingen in die Stadt, zusammen shoppen und anschließend gemeinsam etwas essen. Ich musste ihn die ganze Zeit ansehen. Abends wollte ich ihn gar nicht mehr gehen lassen. Ich war so fasziniert von ihm - trotz der Jahre, in denen wir keinen Kontakt gehabt hatten.

Nach ein paar Wochen kam er wieder zu Besuch, diesmal mit seiner Frau und seinen Kindern, meinen Halbgeschwistern. Ich sollte sie alle kennenlernen und verstand mich gut mit ihnen. Nach ein paar Monaten sollte ich sie im Schwarzwald besuchen. Mein Vater kam mich abholen. Zusammen machten wir uns auf den Weg.

So schnell wie ich ihn kennengelernt hatte, verlor ich ihn wieder

Wir fuhren auf der Autobahn - und betrachteten die Ausläufer des Schwarzwaldes. "Edina, ich sehe dich nicht als meine Tochter, sondern als eine attraktive Frau", sagte er auf einmal. Wenn man den eigenen Vater nach fünfzehn Jahren kennenlernt, denkt man sich nichts dabei. Im Gegenteil: Für mich war das in dem Moment sogar ein Kompliment. Schon immer hatte ich mich gefragt, wie es wohl sein würde, wenn ich ihn zum ersten Mal wiedersehen würde. Was würde er von mir halten? Würde er mich lieben? Jetzt hatte ich meine Bestätigung endlich bekommen. Ich war so glücklich.

Doch dann kam alles anders. An einem Vormittag blieb ich mit meinem Vater alleine zu Hause. Ich war gerade dabei, mich in meinem Schlafzimmer umzuziehen. Mein Vater überraschte mich: Er kam ins Zimmer, packte mich, nahm mich hoch, drückte mich an die Wand und schmiss mich aufs Bett, um mich anzufassen. Ich wehrte mich heftig und trat ihm in den Schritt. Endlich ließ er von mir ab.

Ich war erschrocken, wie unter Strom. Als meine Stiefmutter zurückkam, konnte ich mich ihr nicht anvertrauen. Die Anspannung war viel zu groß und ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu erzählen, dass mich mein Vater zu vergewaltigen versuchte hatte. Ich wollte nur noch zu meinen Großeltern, zurück nach Hause.

Am Tag danach sollte mich mein Vater wieder nach Frankfurt bringen. Ich sagte immer noch nichts und fuhr mit ihm schweigend drei Stunden zurück. Wir schauten uns nicht einmal an. Auch bei der Ankunft meiner Großeltern ließ ich mir nichts anmerken. Ich verabschiedete meinen Vater so, als ob nichts vorgefallen wäre.

Es dauerte zwei Monate, bis ich mich meiner Oma anvertraute und ihr erzählte, was während des Besuchs bei meinem Vater passiert war. Ich traute mich nicht, meinen Großvater einzuweihen und bat meine Oma, es zu tun. Als er davon erfuhr, war er außer sich. Er redete auf mich ein, ich sollte zur Polizei gehen und Anzeige erstatten.

Ich zögerte, doch dann erstattete ich Anzeige gegen den großen, schönen, starken Mann, dessen Aufgabe es hätte sein sollen, mich zu beschützen. Als ich zur Polizei kam, schickte man mich zum Gerichtspsychologen. Ich erzählte ihm alles über den Vorfall. Es kam zum Gerichtsverfahren. Nach einem halben Jahr wurde mein Vater zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. So schnell wie ich ihn kennengelernt hatte, verlor ich ihn auch wieder.

Irgendwann holt dich alles ein

Oft stellte ich mir die Frage, warum mein Leben so verlaufen musste. Ein paar Mal erwischte ich mich bei dem Gedanken, einfach von der Bildfläche zu verschwinden und in einen Fluss springen zu wollen.

In meinem ehemaligen Kinderzimmer hängt noch ein Ölgemälde eines kleinen Mädchens, dem eine Träne die Wange herunterläuft. Mit acht Jahren kaufte ich mir dieses Bild anstelle eines Spielzeugs. In dem zurückgelassenen und verletzten Kind erkannte ich mich wieder.

Mir hat eine psychologische Therapie sehr geholfen, die ich vor drei Jahren absolviert habe. Ich musste erkennen, dass ich als Teenager zu viele Erlebnisse unterdrückt hatte. Sie haben mich eingeholt, als ich meinen heutigen Partner kennenlernte: Ich war sehr eifersüchtig. Besonders dann, wenn er mit seinen Freunden ausging oder allein dadurch, dass er zu seinen Eltern eine gute Beziehung pflegte.

Ich wollte mein Verhalten ändern - und ich wollte Klarheit darüber, warum ich mich so benahm. Mit dem Psychologen konnte ich meine Vergangenheit aufarbeiten, meine Eifersucht unter Kontrolle bekommen - jetzt bin ich dazu in der Lage, eine glückliche Ehe zu führen.

Ich bin auch sehr glücklich, meine Großeltern immer an meiner Seite gehabt zu haben. Die beiden sind für mich alles. Sie sind für mich meine richtigen Eltern.

Wenn ich eines Tages selbst Kinder haben sollte, möchte ich sie zu Personen erziehen, die sich selbst lieben. Vor allem wünsche ich mir, dass sie zu Familienmenschen heranwachsen, denn trotz allem glaube ich an eines: Ohne Familie bist du nichts.

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Edina D., 24, lebt und studiert in Frankfurt am Main.

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