Süddeutsche Zeitung

Wendland:Dorf der Zukunft

Auf einem Feld im niedersächsischen Wendland soll ein Dorf für Arme und Wohlhabende, Alte und Junge, Deutsche und Geflüchtete entstehen - und gegen "das Gefühl, irgendwie verwaist zu sein".

Von Lennart Herberhold, Hitzacker

Die letzten Maiskolben sind geerntet. Jetzt soll ein Traum gebaut werden. "Ich war schon mal mit dem Metermaß hier und hab' ausgemessen, von wo bis wo unser Haus geht", sagt Sabrina Scheffhold, die mit ihren drei Kindern auf dem Maisfeld leben will. Auch Käthe Stäcker und Rita Lassen, beide im Rentenalter, wissen, wo ihr Haus stehen wird: "Da drüben, mittendrin!", sagt Stäcker und zeigt mit leuchtenden Augen auf eine Stelle auf dem fünf Hektar großen Acker. "Wir wollen von Anfang an dabei sein", sagt ihre Partnerin Rita Lassen, "die Dorfgemeinschaft entsteht ja schon jetzt, während wir das Dorf planen." Nach Gemeinschaft sehnt sich auch Sabrina Scheffhold. "Ich bin allein mit den drei Kindern, und das geht nicht so gut", sagt sie und zitiert ein Sprichwort: Um ein Kind großzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.

Das Dorf. Das ist bis jetzt nicht viel mehr als ein Baugrundstück auf einem Maisfeld am Rande der Gemeinde Hitzacker im niedersächsischen Wendland. Und es ist vor allem eine Idee: Das Dorf, das noch keinen Namen hat, soll anders werden. Anders als die teuren Städte, in denen jeder mit dem eigenen Überleben beschäftigt ist. Anders als die armen Dörfer, in denen die Alten und die Chancenlosen zurückbleiben. Das neue Dorf soll für dreihundert Menschen ein solidarisches Zuhause werden. Alte und Junge, Wohlhabende und Arme, Geflüchtete und Deutsche sollen hier zusammen leben und arbeiten. Sie planen das Dorf gemeinsam und wollen es gemeinsam bauen. Alle reden vom Sterben der Dörfer. Das Dorf soll beweisen: Es geht auch anders.

Hauke Stichling-Pehlke hatte die Idee in diesem Sommer, zusammen mit einem Freund, beim Rotweintrinken. "Die Geflüchteten haben mit vielen alten Menschen eines gemeinsam: das Gefühl, irgendwie verwaist zu sein", sagt Stichling-Pehlke, dessen spitze Lederstiefel vielleicht nicht unbeabsichtigt an Robin Hood erinnern. "Hier im Wendland haben sich schon Wahlverwandtschaften zwischen geflüchteten Familien und Rentnern gebildet. Da haben wir uns gesagt: Fangen wir doch alle zusammen an, überlegen wir uns, wie wir wohnen und arbeiten wollen, und machen ein Dorfprojekt!" Klingt verwegen? Nicht im Wendland, das durch das Atommülllager Gorleben berühmt wurde. Seit den Protesten gegen die Castor-Transporte in den frühen Achtzigern wird hier alternativ gelebt und strategisch geplant.

Die Dorfgemeinschaft, das ist im Moment eine Gruppe von etwa 50 Leuten, hat eine Genossenschaft gegründet, um das nötige Eigenkapital zusammenzubringen, den Rest sollen Banken finanzieren. Gerade haben sie beim Notar eine Bau-GmbH eintragen lassen. "Auf der Baustelle werden von Dezember an viele Geflüchtete arbeiten und sich nachqualifizieren können, zum Beispiel als Schreiner", sagt Stichling-Pehlke. Während sie arbeiten, sollen sie Deutsch lernen, Deutsch am Bau. Direkt neben der Baustelle wird eine Lehrerin ihr Büro haben und zur Stelle sein, wenn jemand nicht versteht, was Akkuschrauber oder Filtermaske heißt.

Architekt hat mal eine Insel im Indischen Ozean geplant

Die Idee zu diesem Kurs hatte eine der Gruppen, die sich einmal pro Woche zum Planen treffen. Der leer stehende backsteinrote Bahnhof an der spärlich befahrenen Strecke nach Lüneburg und Hamburg ist zum Ideen-Labor geworden. Neuankömmlinge werden sofort geduzt, und über das nächste Gespräch mit einer Bank wird genauso ernsthaft diskutiert wie über die Frage, ob das Gelände auf Strahlung untersucht werden soll.

Die Handwerker trinken Rotwein, essen Käse und berechnen auf ihren Smartphones, wie viele Stunden sie für den Bau einer Hauswand benötigen werden. Der Architekt Frank Gutzeit erklärt, welche Auswirkung der unebene Grund auf die Bauarbeiten haben wird. Er hat schon mal eine Insel im Indischen Ozean geplant, die nie realisiert wurde, aber das Dorf wird gebaut, da ist er sich sicher. Schon im Dezember werde das erste Haus errichtet. In seinem Hamburger Büro sind zwei Mitarbeiter damit beschäftigt, die Ergebnisse der wöchentlichen Diskussionen in Baupläne zu verwandeln.

Wer sich mehr Quadratmeter wünscht, zahlt mehr in die Genossenschaftskasse ein. Und wer will, dass sich auch alleinerziehende Mütter und Geflüchtete das Dorf leisten können, zahlt einen Solidarbeitrag. Funktioniert das? "Wir suchen nach Leuten", sagt Initiator Stichling-Pehlke. Ein paar Spender hätten sich schon gefunden, die einer Flüchtlingsfamilie eine Wohnung finanzieren werden.

"Ich bin Ingenieur, ich kann hier im Dorf einiges tun"

Eine zweite Flüchtlingsfamilie, die Kuhestanis aus Afghanistan, wartet noch darauf, dass das Geld für ihre Wohnung zusammenkommt. "Ich bin Ingenieur, ich kann hier im Dorf einiges tun", sagt der Vater, Edi Mohamed, auf Farsi. Ja, es ist schwierig, den komplexen Diskussionen zu folgen. Aber es gibt regelmäßig Runden, in denen alles langsamer besprochen wird, um die Nicht-Muttersprachler mit einzubeziehen. Der Sohn der Familie spricht gut genug Deutsch, um einen Wunsch zu formulieren: "Meine Eltern haben immer in der Flucht gewohnt. Ich wünsche mir ein ruhiges Leben für sie."

Rita Lassen blickt über das Stoppelfeld. "Eines Tages", sagt sie, "werde ich hier mal die Augen zumachen und einfach einschlafen." Zurzeit schläft sie vor Aufregung allerdings kaum noch, vor allem in den Nächten nach einer Planungsrunde. Macht sie sich Sorgen, dass der Traum scheitern könnte? Sie schüttelt den Kopf: "Woran?" Am Geld. An unlösbaren Konflikten. "Die Finanzierung läuft", sagt Rita Lassen. "Und Streit? Meine Frau und ich streiten auch manchmal, das kann man doch alles regeln."

Demnächst trainiert die Dorfgemeinschaft in einem Workshop, wie man gemeinsam zu Entscheidungen kommt. Käthe Stäcker und Rita Lassen haben die wichtigste Entscheidung schon getroffen: Sie wollen an das Dorf glauben.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2016/feko
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