Weltkrebstag:Keine Zeit mehr für ein Vielleicht

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Ein Arzt sagte Hans Morhard, dass er bald sterben würde. Doch seit drei Jahren lebt er jetzt mit der Krankheit

(Foto: Manuel Stark)

"Sie wissen doch, was Sie haben, also rechnen Sie mit Ihrem baldigen Ableben": Diesen Satz schleudert der Arzt Hans Morhard entgegen. Drei Jahre später lebt er immer noch - und spricht über die Krankheit, die sein Leben verändert hat.

Von Manuel Stark

Mit einem Knall fällt die weiße Holztür ins Schloss. Nur ein Satz bleibt zurück. Hallt als grausames Echo durch den Raum. Der Arzt bringt den Tod. Mit Worten.

Fast drei Jahre später wird Hans Morhard noch immer laut, wenn er sich erinnert. An den Arzt, der auf dem Fensterbrett seines damaligen Krankenzimmers saß. Ihm wie nebenbei den Satz vor die Füße spuckte, der sein Leben verändern sollte. Und dann aus dem Zimmer ging. Ohne ein weiteres Wort. Während Morhard erzählt, verengen sich seine sonst so offenen Augen. Mit zitternden Händen umklammert er die dunklen Holzlehnen seines Stuhls, als er den Satz von damals wiederholt. "Sie wissen doch, was Sie haben, also rechnen Sie mit Ihrem baldigen Ableben."

Morhard, geboren im April 1947, lebt noch immer. Sitzt im Wohnzimmer seines Hauses im oberfränkischen Lichtenfels, greift mit der Linken nach der Hand seiner Frau und streichelt sie. Er ist unheilbar krank. Er hat Krebs. Hinter dem linken Augapfel und um die Lungenflügel. Aber er lebt. Und er will anlässlich des Weltkrebstages am 4. Februar über die Krankheit sprechen, die sein Leben verändert hat. "Die Diagnose hat mir damals alles genommen. Mein Ziel war weg. Aber ein Mensch braucht doch ein Ziel, um weiterzumachen", erzählt Morhard. Sein Leben lang hatte er gearbeitet. Er war nur selten zuhause, hatte nur wenig Zeit für seine Familie. In der Rente wollte er das nachholen. Seine Kinder und Enkelkinder die Liebe spüren lassen, die sie bisher zu selten erfuhren. Das war sein neues Ziel.

Nur die Familie zählt

Bis zum April 2012. Dem Monat der Diagnose. "Wenn man erfährt, dass man Krebs hat, fällt man erst einmal in ein tiefes Loch. Ich war wie erschlagen", sagt Morhard. Wochenlang hat er nicht die Kraft, sich zu befreien. Ist in Gedanken ständig bei seiner Familie, dem Ziel, das unerfüllbar bleiben soll.

Bis er auf Christof Lamberti trifft. Der Arzt ist medizinischer Beirat eines Fördervereins krebskranker Patienten. Er nimmt sich Zeit und hilft Morhard, die Diagnose besser zu verstehen. Das erste Treffen beendet der Arzt mit einer Warnung. "Wenn Sie über eine stark befahrene Straße laufen, dann passen Sie auf. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass Sie im Verkehr überfahren werden, ist weit höher, als dass Sie an den direkten Folgen Ihrer Krankheit sterben." Dieser Satz macht Morhard Mut. Er ist noch immer unheilbar krank, aber er wird nicht sofort sterben. Ihm bleibt Zeit. Für seine Familie, sein Ziel. Er beginnt zu kämpfen.

"Ich war nicht alleine", sagt er und blickt auf den hellen Holzschrank seines Wohnzimmers. Dort hängen Bilder seiner zwei Söhne und seiner Tochter. Darüber sind seine fünf Enkelkinder zu sehen. Mit Mühe hält er seine Tränen zurück. Der Mann, der bis gerade über seinen Krebs geredet hat wie über einen leichten Schnupfen, wirkt plötzlich verletzlich. "Ob Machtkämpfe zwischen Putin und Merkel oder sonstiges Geplänkel, das ist doch alles unwichtig. Solange ich meine Familie habe, um die ich mich kümmern kann", flüstert er wie zu sich selbst.

"Ist das heute mein letzter Tag?"

Seit September 2014 kämpft Michael H. im zirka 60 Kilometer entfernten Bad Lobenstein mit einer ähnlichen Diagnose: Krebsbefall um die Lungenflügel. Behandelbar, aber nicht mehr heilbar. Der 52-Jährige sitzt auf einem schwarzen Ledersofa, das inmitten seines weiß gefliesten Wohnzimmers steht. Der Kontrast zwischen hell und dunkel, Leben und Tod, hat ihn schon immer fasziniert. Mit seiner Diagnose wich diese Faszination zuerst dem Entsetzen, dann der Orientierungslosigkeit.

Michael H. sitzt zusammengesunken da. Sein schwarzes Hemd ist zerknittert. Noch vor wenigen Monaten wäre es undenkbar für ihn gewesen, ohne sorgfältig gebügelte Kleidung herumzulaufen. Die Prioritäten ändern sich, wenn man Krebs hat. "Ich fühle mich wie ein Wanderer ohne Kompass", sagt er. "Wenn ich nach vorne sehe, weiß ich nicht, welchen Weg ich einschlagen soll." Den Blick hält er nach unten auf den weißen Fliesenboden gerichtet. Er weiß nicht, wie lange sein Leben noch dauern wird. Sein Arzt spricht von mehreren Jahren - bei richtiger Behandlung. Gesteht aber auch, dass es bei einer Krankheit wie Krebs nie eine hundertprozentige Sicherheit gibt.

Michael H.'s erster Gedanke am Morgen ist immer der Gleiche. "Ist das heute vielleicht mein letzter Tag?" Seit der Diagnose fällt es ihm schwer einzuschlafen. Er hat Angst, nicht mehr aufzuwachen. "Ich habe so viele offene Träume. Aber mit jedem Tag verblassen sie mehr." Michael H. möchte anderen Menschen helfen. Sich ehrenamtlich einsetzen, vielleicht für Flüchtlinge oder Obdachlose. Aber auch seine eigenen Träume verwirklichen. Doch was tun? Womit beginnen? Es ist schwer, eine Entscheidung zu treffen, wenn man nicht weiß, ob für beides genügend Zeit bleibt.

Er hebt den Blick, sieht auf ein Bild, das ihm ein alter Freund aus Australien geschickt hat. Es zeigt ein springendes Känguru in der weiten Steppe. "Vielleicht sollte ich es einfach tun. Aufstehen und eine Fahrradtour durch fremde Länder machen, so wie ich es schon lange vorhabe." Er strafft seine Schultern, steht auf und verschwindet kurz im Schlafzimmer. Als er wiederkommt, hält er einen großen dunkelblauen Wanderrucksack in seiner rechten Hand. "Das Ding steht schon seit Jahren neben meinem Bett. Immer einsatzbereit. Vielleicht ist es ja endlich einmal Zeit, ihn einzuweihen."

Wieso trifft es mich?

Hans Morhard löst den Blick von den Familienbildern am Holzschrank. Seine Enkel bedeuten ihm alles, wenn er mit ihnen zusammen ist, tritt die Frage nach dem Zeitpunkt seines Todes in den Hintergrund. Doch wie kämpft man gegen die immer wieder aufkeimende Hoffnungslosigkeit? Morhards Lösung war, anderen zu helfen. Im November 2013 wurde er zum Vorstand des Fördervereins krebskranker Patienten in Coburg gewählt. Täglich nimmt er sich nun der Sorgen von Menschen an, die überraschend mit der Diagnose Krebs kämpfen müssen. Wieso trifft es mich? Diese Frage stellen sich die Menschen, die sich an ihn wenden, jeden Tag.

"Man kann 1000 Warum-Fragen stellen, aber es bringt einen nicht weiter, sondern macht kaputt", sagt Morhard und holt einen Flyer seines Vereins hervor. "Diagnose Krebs? Wir helfen!", steht dort in grünen Lettern auf grauem Grund. Darunter ein Gruppenbild, auf dem auch Morhard zu sehen ist. Dabei spürt auch er jeden Tag, wie die Krankheit an seinen Kräften zehrt. Er hat oft Kopfschmerzen und wird schnell müde. "Aber seelisch geht es mir unglaublich gut. Wirklich wahr", sagt er und blickt vom Flyer erneut zum Holzschrank mit den Familienbildern. Drückt noch einmal die Hand seiner Frau. Trotz der unheilbaren Krankheit hat er sein Leben wiedergefunden.

"Es wird Zeit sich aufzuraffen"

Michael H. sieht sich suchend in seinem Wohnzimmer um. Weiße Fliesen, schwarzes Sofa, Glastisch, Bild von Australien. Bis auf die farblichen Gegensätze hat er nie großen Wert auf seine Einrichtung gelegt. Die meiste Zeit war er sowieso unterwegs. Als Anlageberater muss man ständig für den Kunden da sein.

Nun wünscht er sich, er hätte mehr Zeit gehabt. Für sich. Für seine Familie. "Wenn mich meine Eltern oder mein Bruder besuchen, ist es immer ein heftiger Kontrast zwischen Freude und Trauer. Es ist schön, sie um mich zu haben, aber auch erschreckend zu bemerken, wie wenig ich über ihr Leben während der letzten Jahre weiß", sagt er. " Ich war so mit meiner Arbeit beschäftigt, dass ich mich in meiner eigenen Familie manchmal wie ein Fremder fühle." Er hält kurz inne, lässt seinen Blick schweifen: weiße Fliesen, schwarzes Sofa, Glastisch, Bild von Australien. "So sollte es nicht sein", sagt er leise.

Der Krebs ist für Michael H. auch eine Chance. Er schenkt ihm Zeit. Die Freiheit nachzudenken, etwas zu verändern, einen Aufbruch zu wagen. "Zeit, das war für den gesunden Michael nur ein anderer Begriff für Arbeit", sagt er. Wieder sieht er den dunkelblauen Wanderrucksack an, der noch immer neben dem Sofa steht. Er hebt ihn auf, öffnet die Schnallen, schließt sie wieder und fährt mit dem rechten Zeigefinger über den metallenen schwarzen Reißverschluss.

"Vielleicht", beginnt er, zögert dann aber. Wieder sieht er auf das Bild mit dem springenden Känguru. Seine Hände schließen sich fester um den Rucksack. "Es wird Zeit, sich aufzuraffen", sagt er. Michael H. will es nicht schon wieder bei einem Vielleicht belassen.

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