Weinkultur in 50 Jahren:Achtung, jetzt kommt ein Karton!

Wein in Flaschen, das war einmal. Wenn es so weitergeht, werden wir im Jahr 2058 Cabernet aus China, abgefüllt in Tetrapaks, trinken. Ein Blick in die Zukunft.

Andreas Essl

Dicker Staub bedeckt die Flaschen in den labyrinthischen Kellergewölben von "Berry Bros. & Rudd" in der Londoner St. James Street. Vor Jahrzehnten hingelegt, werden sie nur selten bewegt und noch seltener geöffnet. Relikte aus vergangener Zeit, deren Inhalt sich längst von Bordeauxrot in Bernstein verfärbt hat. Lord Byron soll hier Kunde gewesen sein, und auch die Titanic hatte ein paar Dutzend Kisten von Berry Brothers bestem Bordeaux an Bord.

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Wein in Flaschen könnte schon bald als angestaubt gelten - er ist zu schwer, um kreuz und quer durch die Welt gekarrt zu werden.

(Foto: Foto: Berry Bros. & Rudd)

Der Keller der Queen wird von Simon Berry, Boss in der achten Generation, gehegt und gepflegt. Berry Bros.&Rudd ist eine önophile Institution, und dies vor allem aufgrund der ständigen Entwicklungen und neuen Tendenzen in der Weinbranche. Im Juni veröffentlichte die altehrwürdige Weinhandlung ihren Zukunftsreport "Future of Wine", aus dem hervorgeht, wie es in 50 Jahren um die internationale Weinkultur bestellt sein wird. Nichts bleibt, wie es ist, so das simple Fazit.

Die Qual der Wahl zwischen China-Weinen

Die Weinwelt ist im Fluss: Blickt man auf das Jahr 1958 zurück, so hätte man damals die Regale lange nach Weinen aus Argentinien, Chile oder Südafrika absuchen können und wäre doch immer wieder vor mediokren, halbsüßen Moselrieslingen gestanden. In 50 Jahren, so Alun Griffin, einer der Verfasser des Berichts, wird man vor einem Regal chinesischer Weine die Qual der Wahl haben.

Griffin spricht in diesem Zusammenhang von der großen chinesischen Weinmauer: Schon heute verfüge China über mehr bepflanzte Rebfläche als Deutschland und Australien zusammen. Noch wird ausschließlich für den nationalen Markt produziert, doch dieser wächst rapide. Auf dessen potenzielle Kaufkraft setzen nicht nur die großen Weingüter im Bordeaux, sondern auch findige Investoren in den chinesischen Provinzen Shandong und Xinjiang. Die gegenwärtige, ohnehin erstaunliche Anzahl von 400 Weingütern wird sich, so schätzt man, verzehnfachen.

Das nötige Fachwissen und die technische Unterstützung holen sich die Chinesen derzeit aus Europa oder Australien. Die geeigneten Anbauflächen werden sich ebenfalls finden - in China dürfte es genügend Terroirs und Mikroklimate geben, die bis spätestens 2058 mit den Bordelaiser Chateaux konkurrieren können.

Cabernet aus Indien

Doch nicht nur ein geeignetes Mikroklima ist entscheidend - vor allem das globale Klima beeinflusst den Weinanbau. Sollte sich die Erde weiter erwärmen, würden nicht nur in China Cabernet und Merlot ausgepflanzt. Auch in Indien ist man gerade dabei, ein entsprechendes Bewusstsein für geeignete Rebsorten aufzubauen. England lockt bereits Investoren aus der Champagne und pflanzt Chardonnay und Pinot Noir, da man in wenigen Jahren ein der Champagne vergleichbares Klima erwartet. Die Böden sind nahezu identisch, und in den vergangenen Jahren gewannen die englischen Schaumweine bereits bei diversen Wettbewerben erste Preise.

Wenn man dem Bericht glaubt, werden Länder, die zur Zeit nur marginale Bedeutung haben, wichtiger werden. Osteuropas Weinbauregionen, auf einem Breitengrad mit den großen Weinbauregionen Frankreichs, werden laut Prognose qualitativ Sprünge machen. Und: Kanada soll ein neuer Stern am Weinhimmel der Neuen Welt werden. Südontario könnte dann auf einer Stufe mit Kalifornien stehen.

Des einen Freud, des anderen Leid: Dort, wo es heute schon warm ist, könnte es in 50 Jahren zuweilen sehr heiß werden - zu heiß, um Trauben anzubauen. In den vergangenen beiden Jahren verwüsteten gewaltige Dürren Teile der Weinernte Australiens, Wassermangel führte zu Bewässerungsverboten. Die Preise für Fasswein explodierten daraufhin von 25 Cent auf über 60 Cent für den Liter. Sollte dieser Trend anhalten, und dafür spricht einiges, könnten die Billigsparten australischer Weine bald der Vergangenheit angehören. Australische Weinbauern würden zunehmend in höhere Lagen und in den kühleren Süden ausweichen, möglicherweise gleich nach Tasmanien.

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Achtung, jetzt kommt ein Karton!

Das bedeutet nicht, dass australische Marken nicht weiterhin eine dominante Rolle am Weinmarkt spielen werden. So transportiert Fosters, der größte australische Weinkonzern, für seinen "Lindemans Brand" bereits Wein aus Südafrika und Chile über die Ozeane. Auch der "Future of Wine"-Bericht sieht die Ländergrenzen für die großen Marken fallen - eine neue "Neue Welt" der Weine zeichnet sich darin ab, in der Indonesien, China oder die Fidschi-Inseln die Ingredenzien australischer Supermarken liefern könnten.

Dieses Horrorszenario sei nach Ansicht der Experten gar nicht so abwegig, so Mitverfasser Jasper Morris. Über kurz oder lang würden Angaben zu Rebsorten und Herkunft durch Markenamen ersetzt. Australischer Shiraz oder Marlborough Sauvignon Blanc würde dann unter der Bezeichnung "Lindemans Light" oder "Waitrose White" laufen.

Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass Weine künftig stärker genetisch modifiziert und, etwa durch künstliche Aromen, kundenfreundlicher gemacht werden. Genetisch veränderte Hefen sollen die Alkoholgradation niedrig halten und resistentere Rebsorten der Reblaus und anderen Schädlingen das parasitäre Leben erschweren.

Flaschen und Korken haben ausgedient

Ebenfalls gut möglich, dass Glasflaschen in 50 Jahren der Vergangenheit angehören: Behältnisse müssen an Gewicht verlieren, wenn sie von Weintankern um die Erde gekarrt werden wollen. In Schweden und Frankreich kursieren im Billigpreissektor bereits Pappflaschen von Tetrapak. Wer Glas bevorzugt, wird für Feinweine vermutlich tiefer in die Tasche greifen müssen.

Authentizität und Stil werden auch in 50 Jahren noch ihren Preis haben, und wenn sie aus der Gegend von Bordeaux oder Burgund stammen, erst recht. Glaubt man den Prognosen, werden Premiumweine extrem teuer. Der steigende Bedarf - sowohl als Investition wie auch für den täglichen Konsum - und die beschränkte Verfügbarkeit von Topweinen wird Wein so wertvoll machen wie flüssiges Gold. Preiskriege am Limit der Exklusivität werden stattfinden, die Schlachten um den Wein globale Ausmaße annehmen: Der Bericht geht sogar so weit, dass sich bis zum Jahr 2058 Asiaten, Südamerikaner und Osteuropäer mit dem alten englischen Weinadel um einen Kiste Chateau Lafite 2005 für zehn Millionen Pfund balgen werden.

Könnte sein, dass Berry Bros.& Rudd ein wenig übertreibt - eines indes steht fest: Ein Wein dieser Preisklasse wird nicht korken. Kork in Flaschen ist bereits seit einigen Jahren ein Streitpunkt, und es scheint tatsächlich unwahrscheinlich, dass sich in einer übertechnologisierten Welt ein unberechenbares Stück Naturrinde behaupten kann.

Geheime Botschaften im Verschluss

In jedem Fall könnte sich im Verschluss, sei es nun Kork, Glas oder irgendein synthetisches Material, ein Mikrochip befinden, der die Authentizität des Weines garantiert. Fälschungen werden nämlich zum Alltag gehören, vor allem dann, wenn sich die Preisprognosen bestätigen. Solche Chips, resümiert der Bericht für das Jahr 2058, könnten dem Konsumenten auch wesentliche Informationen zu Weinstil und Inhaltsstoffen im Wein geben.

Noch ist es nicht so weit. Nach wie vor ruhen Chateau Petrus und Co. in den Kellern unter der Londoner St. James Street. Wie lange diese Art der Lagerung allerdings noch zeitgemäß ist, wird sich zeigen. Erst kürzlich hat das stets innovative Champagnerhaus Roederer in diesem Bereich neue Versuche initiiert: Vor der kleinen französischen Kanalinsel Mont Saint Michel wurden einige Dutzend Flaschen Brut Premier auf dem Grund des Meeres versenkt. Stabile zehn Grad, wellenförmige Strömungsbewegung und keinerlei Beeinträchtigung durch UV-Strahlung könnten perfekte Bedingungen für die Lagerung von Wein gewähren.

Das Experiment soll vorerst ein Jahr dauern. Wer weiß, vielleicht schlummert schon bald auch das Sortiment der Berry Bros. im exklusivsten Unterwasser-Weinkeller der Welt.

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