Der Tag, an dem Costis Mitsotakis zum Pechvogel wird, beginnt mit einem Brummen. Es ist der 22. Dezember 2011, kurz nach zehn Uhr. Sein Handy vibriert. Es ist ein Freund aus dem Nachbarort. Er sitze gerade im Zug, sagt der Freund, und die Leute tuschelten aufgeregt - immer wieder falle der Name Sodeto. So heißt das Dorf, in dem Costis Mitsotakis wohnt. Er setzt sich in seinen alten Renault Twingo, Farbe kotzgrün, und fährt rüber ins Dorf.
Er wohnt etwas außerhalb, in einer renovierten Scheune, umwachsen von Brombeerbüschen, am Ende einer Schotterstraße. Das ist kein unwichtiges Detail. Die Lage seines Hauses ist der Grund, warum Costis Mitsotakis von diesem Tag an kein normaler Bewohner von Sodeto mehr ist, einem spanischen Bauerndorf mit 228 Einwohnern am Rande der Pyrenäen. Er ist fortan der "größte Pechvogel des Landes". Ein "unglücklicher Verlierer". Wahlweise auch "ein trauriger Einsiedler mit Liebeskummer", je nachdem, welche Boulevardzeitung man in den Tagen danach aufschlägt.
Immerhin, sagt Mitsotakis heute: Als die New York Times auf ihrer Titelseite über ihn berichtete, habe sie ihn einfach "a Greek filmmaker" genannt. Endlich eine sachliche Beschreibung.
Der erste Lotto-Verlierer
Damals sieht er schon von Weitem Traktoren und Mähdrescher kreuz und quer auf der Straße abgestellt, manche Motoren laufen noch. Auf dem Dorfplatz springen Menschen im Kreis, einer rennt mit einer Champagnerflasche im Arm aus der Dorfbar. Er brüllt: "El Gordo!" Allmählich versteht Mitsotakis. Er wendet den Wagen und gibt Gas.
Costis Mitsotakis, heute 46, ist Kameramann. Zwölf Jahre hat er in Athen für eine der größten Werbeagenturen der Welt gearbeitet, er hat TV-Spots für Whisky und Zahnpasta produziert. Seither macht er freiberuflich Dokumentarfilme, er ist viel in Afrika. Damals rast er zurück zu seinem Haus und greift sich die erstbeste Kamera, eine Sony HVR-V1P .
El Gordo, "der Fette", ist der Jackpot der spanischen Weihnachtslotterie. Jeder, der in Spanien wohnt, kennt den Begriff. Die Lotería de Navidad ist die älteste, größte Lotterie der Welt. Fußballvereine, mittelständische Unternehmen, ganze Dörfer teilen sich eine Losnummer - der Gewinn ist immer ein Gruppengewinn. Erst vor ein paar Tagen traf er wieder 1600 Menschen in einer andalusischen Küstenstadt. In Sodeto laufen jeden Sommer die Frauen von der Asociación de amas de casa, dem örtlichen Hausfrauenverein, von Tür zu Tür und verkaufen Lose. Sechs Euro das Stück.
Damals, 2011, hatten sie bei allen im Dorf geklingelt, außer bei Mitsotakis am Ende der Schotterstraße. Was soll's, habe er noch gedacht. "Ich filmte die Feier und überschlug im Kopf, wie viel das wohl sein kann", sagt er, "ein paar Tausend für jeden?" Dann klingelte sein Handy. Seine Exfreundin kreischte einen Geldbetrag ins Telefon. Da, sagt Costis Mitsotakis, habe er die Kamera dann mal kurz abgesetzt.
Es war, als würde sich ein kleines Zahnrad klickend drehen und eine unsichtbare Mechanik in Gang setzen. Der kühl-sonnige Vormittag und diese Ansammlung euphorischer Landwirte, all das lag plötzlich eine Ebene höher. Schicksal will Mitsotakis es nicht nennen. Daran glaubt er genauso wenig wie an magische Zahlen, eine höhere Gerechtigkeit oder all die anderen Gründe, die die Menschen von Sodeto in den Wochen danach vorbringen, um sich den Lauf der Dinge zu erklären. An den reinen Zufall glauben Sieger selten.
120 Millionen Euro für 70 Haushalte: Seit Sodeto den größten Weihnachtsjackpot aller Zeiten geknackt hat, kommen Menschen aus ganz Spanien, um hier Lose zu kaufen.
(Foto: Jan Stremmel)Wer Lotto spielt, darf für ein paar Euro mit dem prickelnden Gefühl leben, möglicherweise bald ein Gewinner zu sein. Das Schöne am Lotto ist ja, dass man nur von den Gewinnern hört. Costis Mitsotakis ist vielleicht der erste Mensch, bei dem man von einem Lotto-Verlierer sprechen muss.
Und heute, nach vier Jahren? Ein Dienstag vor Weihnachten, kurz vor Mittag. Die Autofederung knackt, Mitsotakis steuert seinen alten Renault eine staubige Schlaglochpiste hinauf. Er stoppt auf dem Hügel, am Rand eines Pinienwalds, wirft die Autotür hinter sich zu und ruft: "Klein, was?" Vor ihm liegt, ausgebreitet wie Bauklötze auf einem Teppich, Sodeto. Ein paar einstöckige Häuser aus Sandstein, eine Kirche, ein Dorfplatz. "70 Haushalte", so zählten das damals die atemlosen TV-Reporter auf, teilten sich die Losnummer 58 268, El Gordo. 228 Menschen, minus einer.
Vom Hügel aus sieht Mitsotakis auch sein eigenes Haus, ganz am Rand, dahinter spannt sich eine Landschaft wie in der Zigarettenwerbung: trockene Prärie, endlose Felder, zwischendrin ein paar Felsen und schnurgerade Landstraßen. Im Autoradio verkündet der Bauernverband gerade die Ergebnisse der Jahresernte.
Vor zehn Jahren ist Mitsotakis hergezogen. Er hatte seinen Job in Athen gekündigt, "eine Überdosis Großstadt", wie er sagt, und reiste mit seiner spanischen Freundin im Wohnmobil durch Europa. Als sie in Spanien ankamen, besuchten sie die kranke Großmutter der Freundin in Sodeto. Die Landschaft, die Ruhe, er liebte es. Dann starb die Großmutter. Und sie beschlossen, das Haus zu übernehmen.