Süddeutsche Zeitung

Weihnachten:Marias heiliger Umsturz

Die Frau an der Krippe ist keine demütige Hausfrau. Sie stellt die Hierarchien in Frage. Ihr "Magnificat" ist der revolutionärste aller Lobgesänge. Diese Maria hat #MutToo.

Kommentar von Heribert Prantl

Wie gut, dass es Maria gibt. Kein anderer Mensch hat zu so vielen Gesängen, Gebeten, Geschichten und Gedichten angeregt. Kein anderer Mensch ist so oft gemalt worden wie sie, kein anderer so oft besungen. Ohne sie wäre die Geschichte der Kunst anders verlaufen. Ihren Namen tragen Millionen Menschen als Vornamen. Dome, Kirchen, Kapellen, Städte, Inseln und Schiffe sind nach ihr benannt. Maria ist die berühmteste Frau in der Geschichte der Menschheit. Selbst wer nicht viel von ihr weiß, so viel weiß jeder: Sie ist die Mutter des Jesuskindes, die Frau an der Krippe.

Viel mehr weiß auch die Bibel nicht über Maria: Nur ein Dutzend Mal wird sie beim Namen genannt, ihre Herkunft bleibt im Dunklen, in den Evangelien kommt sie wenig zu Wort. Aber das, was sie sagt, ist umwerfend. Ihr Magnificat, vom Evangelisten Lukas überliefert, ist kein betschwesterliches Gesäusel, es ist das Lied vom heiligen Umsturz. Man muss sich das vorstellen: Die Frau, die schwanger mit dem Heiland geht, kann nicht lesen und schreiben, darf nicht sprechen in der Synagoge. Aber diese Frau erhebt die Stimme und singt das Lied von der göttlichen Revolution: "Gott zerstreut die Hochmütigen. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Erniedrigten. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen."

Diese Maria ist nicht die demütige heilige Hausfrau, zu der die Prediger sie jahrhundertelang gemacht haben. Da singt die leidenschaftliche, unerschrockene und stolze Maria einen revolutionären Hymnus, der die alten Hierarchien, auch die zwischen Männern und Frauen, infrage stellt: Maria ist hier Prophetin, sie ist Kritikerin von ungerechten Verhältnissen; Maria lobt Gott dafür, dass er ihre "Niedrigkeit" gesehen habe. Sie hat den Mut der Frauen, die sich heute unter "#MeToo" outen. Sie schweigt nicht. Niedrigkeit ist für Maria nicht gottgewollt oder gottgefällig. Wenn die Bibel von Niedrigkeit redet, dann geht es darum, dass Menschen zur Beute von anderen werden; es geht um physische und psychische Gewalterfahrungen. Maria redet vom Sturz der Gewalttäter. Weil sie, die Erniedrigte, mit Großem gewürdigt wird, so der Eingangssatz des Hymnus, preist sie Gott. Auf Lateinisch: Magnificat.

Das Magnificat kann es an Radikalität und Wucht mit dem jungen Karl Marx aufnehmen, der verlangte, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes Wesen ist". Nur: Was für Marx Vollendung seiner Kritik an der Religion ist, das ist für Maria Anfang des Glaubens an den Heiland. Was bei Marx die Lehre ist, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, das ist für Christen die Lehre, dass Gott Mensch wird, in einem obdachlosen Kind. Dietrich Bonhoeffer hat das Lied der Maria "das revolutionärste Adventslied" genannt, das je gesungen wurde.

Den meisten theologischen Deutern war das zu wild; sie machten Maria brav, reduzierten sie auf die jungfräuliche Gebärerin. Im Lauf der Jahrhunderte wurde die Botschaft der Maria unter Blumenbergen begraben und vom Kerzenrauch verrußt. Aber die Weihnachtstexte lassen sich nicht zähmen, sonst wären sie vergessen.

"Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden den Menschen auf Erden", verkünden die Weihnachtsengel, als Maria ihren Sohn zur Welt gebracht hat. Dieser Engelsgesang hatte ein ähnliches Schicksal wie Marias Magnificat: Es wurde und wird verkitscht. Die große Friedensforderung wurde zum faulen Frieden, hinter dem sich der Unfriede in den Familien, in der Gesellschaft und der Welt für ein paar Weihnachtstage versteckt. Die Engelsbotschaft ist fordernd - denn das Gloria in Excelsis und der Friede auf Erden gehören zusammen. "Ehre sei Gott in der Höhe" verlangt nicht, sich in ein Jenseits zu flüchten oder in die eigene Innerlichkeit; auch nicht, möglichst viele Hallelujas zu singen. Es geht nicht um religiösen Höhenrausch, sondern um irdische und fundamentale Herrschaftskritik. Ehre gibt man Gott durch Widerworte gegen menschlichen Größenwahn - den patriarchalen oder nationalen Größenwahn, den religiösen oder rassistischen. Die Pointe der Texte über Gottes Glorie liegt darin, dass dessen Erhabenheit nicht ein wolkiges Abgehobensein ist, sondern sich darin erweist, dass er sich mit den Erniedrigten identifiziert; er hebt, so in Psalm 113 "den Armen aus dem Dreck". Es ihm nachzumachen, damit ehrt man Gott am meisten.

Realvision eines Friedens, der mehr ist als Waffenstillstand

Man kann die Provokation, die darin liegt, ein Baby in der Krippe als Retter zu präsentieren, nicht hoch genug einschätzen. Wenn man die Messiasse von heute anschaut, die nicht in Windeln gewickelt, sondern in Unrecht verwickelt sind, die im Privatjet zur Erde kommen oder im Slim-Fit-Anzug einherschreiten - dann versteht man mit einigem Vergnügen die Ironie des Lukas, der die aberwitzige Chuzpe hatte, so von einem Gottessohn und Messias zu reden, und der damit die Welt auf den Kopf stellte.

Wer heute vom Umsturz träumt, wird mitleidig belächelt. Man will keine Experimente. Gleichwohl ist viel Verdruss spürbar und Lust auf radikale Veränderung der Verhältnisse. Es reicht aber nicht, den Wechsel zu wollen, weil einem fad ist. Man braucht Bilder davon, wie eine heile Welt ausschaut. Das beschreibt der Prophet Jesaja in einer überwältigenden Vision: In der heilen Welt "gibt es keinen Säugling mehr, der nur wenige Tage lebt; keinen Greis, der nicht das volle Alter erreicht. Sie werden Häuser bauen und selbst darin wohnen. Sie arbeiten nicht mehr vergebens, sie bringen nicht Kinder zur Welt für einen jähen Tod." Das ist keine Vorlage für einen Koalitionsvertrag, sondern Realvision eines Friedens, der mehr ist als Waffenstillstand. Das ist der Friede auf Erden, wie er sein soll - und der zu schön ist, um nicht wahr zu sein.

Er ist eine Utopie. Die Lieder, die davon handeln, halten den Glauben an eine radikale Alternative fest. Das Leben würde depressiv ohne diese Widerstandslieder. Und wenn sie einen verstören, weil die Wirklichkeit so entsetzlich anders ist, haben sie Erfolg. Denn nur Menschen, die sich stören lassen und etwas vermissen, sind offen für die Sehnsucht, die nach Veränderung sucht: Das ist Weihnachten.

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Quelle:
SZ vom 23.12.2017/mane
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