Süddeutsche Zeitung

Weihnachten:Die Welt ist in Unruhe

Wenn man an Weihnachten denkt, hat man nicht unbedingt die Mordgeschichte von Kain und Abel im Kopf. Dafür gäbe es aber gute Gründe. Denn Kains Motive sind noch immer in der Welt.

Kommentar von Heribert Prantl

Mathis der Maler hat es gewusst; er hat es besser gewusst als die meisten Menschen von heute. Er hat gewusst, dass Weihnachten nicht nur ein Jubelfest ist; Weihnachten ist zugleich der Beginn einer Leidens- und Gewaltgeschichte. Und so hat Matthias Grünewald, genannt Mathis der Maler, es vor fünfhundert Jahren auf den Isenheimer Altar gemalt. Er hat die dauernde Gegenwart des Entsetzlichen dargestellt, die Gleichzeitigkeit von Heil und Unheil, von himmlischer Geburt und irdischer Kreuzigung: Die verschlissene, zerfetzte Windel, die das Jesuskind in der Geburtsszene trägt, ist das nämliche Stück Stoff, das er dem Gekreuzigten als Lendenschurz malt. Mathis der Maler hat gewusst, dass Weihnachten die Ouvertüre ist zu einer Geschichte von Leiden, Folter und Mord.

Die Evangelisten haben die Geburtslegenden des Christus jeweils vom Ende her komponiert - auf ganz verschiedene Weise: Lukas hat die Geschichte mit Krippe, Hirten und Engeln geschrieben. Der Evangelist Matthäus hat es drastischer inszeniert: Von ihm stammt die Geschichte von den Magiern, die dem König Herodes von der Geburt des Königs der Juden erzählen. Damit dieser König gar nicht erst groß wird, lässt Herodes Killer ausschwärmen, die alle Säuglinge in der Gegend erschlagen. Das Jesuskind entgeht der Ermordung durch Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten. Rubens hat das "Massaker der Unschuldigen" auf die Leinwand gebracht - Kinder aus den Händen ihrer flehenden Mütter gerissen, zerschmettert, erstochen, erwürgt.

Es hat sehr wohl einen grausamen König Herodes gegeben, der hinter jeder Ecke Intriganten und Königsmörder witterte und deswegen sogar seine eigenen Söhne umbrachte. Den bethlehemitischen Kindermord aber hat er nach heutigen Erkenntnissen nicht auf dem Gewissen; der hat nicht stattgefunden, diese Geschichte ist Legende und soll besagen, was auch die zerfetzte Windel bei Grünewald sagen soll: Der Messias, den Gott schickt, wird praktisch mit seiner Geburt ins Unheil hineingezogen - er wird ein Opfer der Gewalt. Der Retter ist einer, der gerettet werden muss, auf dass er nicht umkommt. Unheil ist allgegenwärtig: Wir alle kennen die bethlehemitischen Gräuel - in Bosnien, in Ruanda, im Kongo und vor 75 Jahren auch in Deutschland.

Die Geschichte von Herodes' Kindermord ist geformt nach der alttestamentlichen Erzählung vom Mordkommando des Pharaos in Ägypten, der so verhindern will, dass die Israeliten zu groß werden in seinem Land. Er lässt deren männliche Kinder umbringen. Nur Moses, der spätere Befreier, überlebt die Mordaktion. Es geht in diesen Mord-Geschichten immer um die Angst der Mächtigen, ihre Angst sogar vor den Kleinen: Es soll, es darf, das ist die Angst der Klein- und Großmächtigen, nicht der andere, nicht der Falsche groß werden. Der Kleine soll klein, der Große groß bleiben. Es ist dies eine Urangst der Machtmenschen, über die schon die biblische Urgeschichte handelt. Mit einem Mord aus genau diesem Grund beginnt in der Bibel die Geschichte der Menschheit, die, entlassen aus dem Paradies, in der Wirklichkeit angekommen ist: Kain erschlägt seinen jüngeren Bruder Abel. Abel ist der Prototyp der Gewaltopfer, zu denen auch Jesus gehört.

Aus dem Ärger wird Hass, aus dem Hass Mord

Kain erträgt es nicht, dass Abels Opfergabe von Gott beachtet wird und seine nicht. Es ärgert ihn, er fühlt sich erniedrigt. Er ist doch der Habewas, der Erstgeborene, der Erbe; Abel dagegen ist der Habenichts. Der Name Abel heißt übersetzt "Nichtigkeit". Und ausgerechnet dieses Nichts bekommt Beachtung; Kain kann es nicht aushalten, wenn er das Nachsehen hat. Aus dem Ärger wird Hass, aus dem Hass Mord. Bin ich der Hüter meines Bruders?, fragt Kain trotzig und wie zum Hohn auf das, was der Messias aus Bethlehem später predigt: Was ihr einem meiner geringsten Brüder tut, das tut ihr mir.

Kain ist der Prototyp des Starken, der es nicht erträgt, wenn er nicht der Erste ist. Aus diesem Verlangen nach Grandiosität, das in Wahrheit grandiose Schwäche ist, erschlägt Kain den Abel. Die Kains von heute schlagen mit Worten um sich, manchmal begehen sie Anschläge. Die Angst der Kains von heute ist: Wenn der, dem ich bisher überlegen war, etwas gilt, dann gelte ich nicht mehr. Er, der sich nie irgendwie für das, was er ist, erklären musste, fühlt sich abgewertet, wenn der, der vermeintlich unter ihm steht, das bekommt, was er als sein natürliches Recht empfindet. Jetzt kriegt es auch Abel, die Frau, der Schwule, der Ausländer, grollt er und beschwert sich über überzogene politische Korrektheit.

Dieses biblische Lehrstück über die Wurzel der Gewalt geht ungewöhnlich aus - weihnachtlich: Der Kreislauf des Unheils wird unterbrochen. Kain sieht mit Entsetzen, welche Folgen das Gesetz des Stärkeren am Ende auch für den Starken hat, dass auch der Stärkere irgendwann der Schwächere ist. Er erkennt, was ihm blüht: "Rastlos und ruhelos werde ich sein." Er wird zum Schutzlosen, zu einem, der Asyl sucht und es nirgends finden wird. Wieso sollte denn er jetzt einen finden, der ihn behütet? Das ist das Betriebssystem der Erbarmungslosigkeit.

Durch eine erstaunliche Intervention wird das Mahlwerk abgeschaltet. Gott wird Kain zum Hüter. Kain bekommt von ihm ein Zeichen, das sprichwörtliche Kainsmal, eben nicht Schandmal, das den Übeltäter verrät, sondern Schutzmal. Es ist der Stempel "Asyl", der Kain vor dem Tod bewahrt. Der Kreislauf der Gewalt wird angehalten. Kain, der das Hütersein verachtete, findet einen, der ihn behütet. Dies ist eine wahrhaft weihnachtliche Offensive, allerdings kein Happy End. Kain lässt sich nieder im Land Nod.

Nod aber heißt: Unruhe. Wir sind seine Nachkommen im Land Nod. Die Welt ist in Unruhe. Bin ich der Hüter meines Bruders? Es ist dies eine Überlebensfrage - und das Überleben der Menschen und der Menschheit hängt davon ab, dass sie mit Ja beantwortet wird. Dann ist Weihnacht.

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SZ vom 24.12.2018/dit
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