Weihnachten 2015:Der Engel des Jahres

Der Mond ist um 100 Meter geschrumpft

Der Posaunenengel "Fama" in Dresden.

(Foto: Matthias Hiekel/dpa)

Die Menschen spüren, dass die Lebensrisiken größer werden und wollen sie abwenden. Aber statt gegen die Ursachen zu rebellieren, hofft man auf himmlische Wesen, die es im Ernstfall wieder richten.

Kommentar von Heribert Prantl

An Weihnachten, dem Fest also, an dem die Engel in den Tannenzweigen landen und vor und über den Krippen die frohe Botschaft verkünden, könnte man es sich zur Übung machen, den "Engel des Jahres" zu wählen und sich dabei von Bildern inspirieren zu lassen - von Raffael, Rembrandt, Chagall oder Anselm Kiefer. Das wäre eine multikulturelle Übung, denn Engel sind keine christliche und jüdische Spezialität; sie finden sich auch auf Bildern, auf denen man Mohammed in den Himmel reiten sieht.

Vor der Abstimmung über den Engel des Jahres sollte man die Ereignisse von 2015 rekapitulieren. Wer den Terror und die Grausamkeiten des IS vor Augen hat, das Elend der Flüchtlinge und den Absturz des Germanwings-Flugzeugs in den Meeralpen - der wird für ein Bild des finnischen Malers Hugo Simberg votieren. Es heißt "Der verwundete Engel", hängt im Ateneum in Helsinki: Man sieht einen jugendlichen Engel, von zwei Jungen auf einer Bahre getragen; er hat eine Binde über den Augen, auf den Flügeln finden sich Spuren von Blut.

Es ist ein Gegenbild zu den rauschhaft gloriosen Bildern von der Herrlichkeit des Himmels. Es ist ein trauriges Bild, ein Bild vom Versagen eines Schutzengels. "Fürchtet euch nicht!", sagt der Weihnachtsengel im Evangelium. Beim Bild des Malers Simberg fürchtet man auch um den Engel.

Diffuse Angst wird rassistisches Ressentiment

Man hat sich oft gefürchtet im Jahr 2015. Ist Angst aber nicht eine gesunde Regung? Angst erschüttert, sie zwingt Fragen auf: Was ist so kostbar, dass man Angst hat, es zu verlieren? Angst ist eine Unterbrechung, die wichtig ist - auf dass man dann die richtige Entscheidung trifft. Diese Angst ist eine andere als die neuen deutschen Ängste, die gern zu "diffusen Ängsten" kumulieren; diese Pegida-Ängste erweisen sich bei näherer Betrachtung nur als rassistische Ressentiments. Sie sind die Schafspelze, die sich der Hass umhängt, um Wolfsgedanken zu verbreiten. Engel erregen Furcht, keine diffusen Ängste. Sie fordern auf, Furcht zur Besinnung zu nutzen und so zu überwinden.

Wer den Kosmos der Engel studiert, so wie ihn Glaube, Wunsch und Vorstellung geschaffen haben, der findet vornehmlich sehr mächtige Exemplare. Die alten Theologen haben den himmlischen Luftraum in neun Chöre gegliedert: die Seraphim und Cherubim, die Throne und Herrschaften, die Mächte und Gewalten, die Fürstentümer, Erzengel und normalen Engel.

Der Streit über die Körperlickeit der Engel

Sie begleiten und geleiten, schützen, trösten und kämpfen; sie blasen Posaunen, führen Schwerter, besiegen Teufel. Wenn man von den Engeln nichts anderes sieht als einen Kopf und zwei Flügel, heißen sie Putten, zieren als Stimmungsträger die Barockkirchen und Weihnachtskarten.

Die mittelalterlichen Scholastiker sind auf der Spur der Engel zur Hochform aufgelaufen. Die berühmteste scholastische Frage war die, wie viele Engel Platz haben auf der Spitze einer Nadel; daran exemplifizierte sich der Streit über die Körperlichkeit der Engel. Der Kirchenhistoriker Karl August von Hase hat die Engel deshalb zu "metaphysischen Fledermäusen" erklärt. Scholastik und Spott haben aber nichts daran geändert, dass heute mehr Menschen an Engel glauben als an Gott.

Die himmlische Eingreiftruppe?

Weil die Engel Flügel haben, sind sie aus den heiligen Schriften heraus und hinein in den Alltag geflogen; dort kleben sie bisweilen am Zuckerguss fest. Engel haben ihren Platz im Alltag unabhängig vom Gottglauben gefunden: Es gibt rettende und heilende Engel, Friedensengel, die Schutz- und Todesengel. Viele Menschen glauben an Signale der Transzendenz, daran, dass menschliches Bewusstsein in Verbindung treten kann mit einer Wirklichkeit, die jenseits der Alltagswirklichkeit existiert.

Der Wunsch, behütet zu sein

Der Engel ist eine Chiffre dafür, er ist der Name für den Wunsch, behütet zu sein. Kein anderer Taufspruch ist daher so beliebt wie der aus Psalm 91: "Der Herr hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen." Das ist tröstlich; wenn man aber den ganzen Psalm liest, schüttelt es einen; da geht es um die Albträume des Lebens, da ist die Rede von den Pfeilen des Tages, den Seuchen des Mittags, dem Grauen der Nacht.

Die Engel als himmlische Eingreiftruppe? Das Neue Testament lehrt es anders: erst Krippe, dann Kreuz! Die Lebenserfahrung lehrt es auch anders: Wo waren die Engel, die die Flüchtlinge behüteten auf all ihren Wegen übers Mittelmeer? Wo waren sie beim Germanwings-Flug 4U 9525? Aber schon die biblischen Engel verweigern sich ja, genau besehen, der Leibwächterrolle, die ihnen Mythos und Volksfrömmigkeit verpasst haben.

Engel sind keine Krisenmanager

Die Menschen spüren, dass die Lebensrisiken größer werden und wollen sie abwenden. Statt gegen die Ursachen zu rebellieren, hofft man auf Engel, die es wieder richten. Engel sollen den Lebensplan beschützen, aber nicht durcheinanderbringen. Die biblischen Engel sind aber keine Krisenmanager und keine persönlichen Bodyguards, sie sind keine Verstärkung des eigenen Ego. Sie sind etwas anderes: Sie sind Mahner, Gewissen, Systemkritiker; sie fordern Entscheidungen: sie wollen, dass der Mensch um den richtigen Weg ringt und dann "englisch" handelt.

So ein Engel ist der Engel der Weihnachtsgeschichte, wenn er "Fürchtet euch nicht!" sagt, bevor er Unglaublichkeiten verkündet und den Hirten ansinnt, sie zu glauben und danach zu handeln. Der Weihnachtsengel verkündet, dass nicht Kaiser Augustus der Erlöser ist, sondern ein Kind in der Krippe. Es braucht Mut, so etwas zu glauben, den Mut zur Utopie. Dass es eine Utopie ist, weiß die Weihnachtsgeschichte selbst, denn das ist der tiefere Sinn, wenn sie erzählt, dass es "keinen Ort" (u-topos) in der Herberge gab.

Einen Ort für Utopien zu schaffen: Das ist Weihnachten. Engel sind Leute, die daran glauben, dass Menschlichkeit und Gewaltlosigkeit möglich sind und die danach handeln. Engel ist jeder, der Kraft hat, aus dem Ring der Unversöhnlichkeit zu springen; dem Ring, der aus dem Nächsten den anderen macht, aus dem Nachbarn den Gegner, aus dem Flüchtling den Feind. Allmächtige Engel gibt es womöglich nicht; als Engel holt man sich oft eine blutige Nase, holt man sich Verletzungen wie Simbergs Engel. Aber die verletzlichen Boten der Menschlichkeit sind unverzichtbar, um an der Welt nicht zu verzweifeln.

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