Süddeutsche Zeitung

Warum wir den Geburtenzahlen misstrauen:Sind doch so viele Kinder, überall!

Die Zahlen lügen. Oder? Angeblich werden in Deutschland immer weniger Kinder geboren. Aber im Alltag sind wir umgeben von Schwangeren und Kinderwagen. Wie passt das zusammen? Auf Spurensuche nach dem gefühlten Kinderreichtum.

Barbara Galaktionow

Da stimmt doch was nicht. Allein im Politikressort von Süddeutsche.de laufen zwei Kolleginnen mit runden Bäuchen herum. Der eine stellvertretende Chefredakteur ist gerade aus der Elternzeit zurück, der andere stöhnt: "Ich bin umgeben von Kindern - wo ich auch hingehe!" Redaktionsübergreifend sind in den vergangenen zwei, drei Jahren mindestens zehn Kinder auf die Welt gekommen. Der betriebseigene Kindergarten? Chronisch ausgebucht.

Sind Onlinejournalisten besonders anfällig für Schwangerschaften? Glauben wir nicht. Auch in der wirklichen Welt tummeln sich junge Mütter und Väter. Eine Blitzumfrage unter Kollegen und Freunden beweist: Jeder kann mindestens zwei Schwangere in seinem Freundeskreis nennen. Und manche der Frauen bekommen nicht nur das erste oder zweite, sondern sogar schon das dritte Kind. Der Wahnsinn, in München einen Kita-Platz zu bekommen, ist Stadtgespräch.

Wie passt das mit den Zahlen zusammen, die seit Anfang des Monats die politische Debatte mitbestimmen? Deutschland hat, so ist zu hören, eine der niedrigsten Geburtenraten in Europa, und zwar schon seit Jahrzehnten. Im vergangen Jahr kamen 15.000 Babys weniger auf die Welt als 2010. Die Zahl der Geburten sank damit um mehr als zwei Prozent. Familienpolitiker aus der Union nutzten das für einen Angriff auf das Elterngeld, den Angela Merkel jedoch deckelte.

Noch dramatischer wird die Statistik, wenn sie in den historischen Kontext gesetzt wird: 663.000 Kinder kamen in Deutschland im Jahr 2011 zur Welt. Das sind nicht einmal halb so viele wie Mitte der sechziger Jahre.

"In Deutschland werden immer weniger Kinder geboren!", rufen die Statistiker. "Kinder, überall Kinder!", denken wir. Wie kann das sein? Woran liegt es, dass die persönliche Wahrnehmung so deutlich von den Fakten abweicht? Dafür gibt es mehrere Gründe.

[] Mütter werden immer älter

"Frauen bekommen heute im Durchschnitt mit 29/30 Jahren ihr erstes Kind", sagt Michaela Kreyenfeld, Bevölkerungswissenschaftlerin am Max-Planck-Institut (MPI) für Demografische Forschung in Rostock. Das Alter für die erste Geburt sei in allen Bildungsgruppen in den vergangenen Jahren angestiegen. Während beruflich geringqualifizierte Frauen dabei tendenziell immer noch eher in den Zwanzigern das erste Kind zur Welt brächten, seien die Dreißiger das Alter, "wo die Akademiker loslegen", wie es die Demografie-Professorin formuliert.

Das gilt vor allem auch für München, wo Frauen im Durchschnitt erst im relativ hohen Alter von 32,4 Jahren ihr erstes Kind bekommen, weiß Stephan Kühntopf vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden.

Kein Wunder also, wenn gerade Menschen mit akademischem Hintergrund in den Dreißigern oder frühen Vierzigern von sinkenden Geburtenzahlen wenig mitbekommen: Selbst wenn sie keine eigenen Kinder haben, sehen sie sich in diesem Alter mit dem zahlreicher werdenden Nachwuchs von Freunden und Bekannten konfrontiert.

[] Kinderreiche und kinderarme Orte

"So viel Neugeborene wie seit 1968 nicht mehr", jubelte die Münchner Abendzeitung Ende Dezember 2011. Von einem "Geburten-Rekord 2011" war die Rede. Auch Süddeutsche.de schrieb über die "Baby-Boom-Town". Und in einem Städteranking, in dem das Männermagazin Men's Health 2010 eigens den Bevölkerungsanteil der unter Sechsjährigen verglichen hatte, lag die bayerische Landeshauptstadt mit fast sechs Prozent auf Platz eins von 50 aufgelisteten Städten .

Die Erklärung für den Münchner Babyboom ist relativ schlicht: "München hat hohe Geburtenzahlen, aber da leben auch sehr viele junge Frauen", sagt Sebastian Klüsener, Experte für Historische Demografie am Rostocker MPI.

Der für Demografen und Politiker allerdings interessantere Wert ist in der bayerischen Landeshauptstadt allerdings nicht besonders hoch, nämlich die Geburtenrate. Sie beschreibt das Verhältnis der Neugeborenen zur Anzahl der Frauen, die potenziell Mütter werden könnten. Hier liegt München mit etwa 1,3 Kindern pro Frau im Mittelfeld, ähnlich wie vergleichbare Großstädte wie Hamburg oder Berlin.

Was das Verhältnis der vorhandenen gebärfähigen (wie es so hübsch heißt) Frauen zur Zahl der Geburten angeht, liegt schon seit Jahren eine Region in Niedersachsen an Platz eins - unangefochten und ziemlich unaufgeregt: der Landkreis Cloppenburg. Die grundsätzlich große Familienorientierung in dem ländlich-katholisch geprägten Raum, ist Klüsener zufolge dafür verantwortlich.

1,7 Kinder bringen die Frauen in Cloppenburg rein rechnerisch betrachtet zur Welt - das liegt deutlich über dem offiziellen Bundesdurchschnitt von 1,4 Kindern pro Frau, wie ihn das Statistische Bundesamt ausweist, - aber selbst noch über der realitätsnäheren, deutlich höheren durchschnittlichen Geburtenrate von 1,6 des Max-Planck-Instituts.

Schlusslichter bei der Geburtenrate bilden hingegen seit Jahren die Studentenstädte Heidelberg, Passau und Würzburg, nicht einmal ein Kind bekommen Frauen hier im Durchschnitt. "Höherqualifizierte studieren an Uni-Standorten, ziehen danach für den ersten Job aber meist woanders hin - und bekommen in der Regel erst dort ihre Kinder", erläutert Klüsener einen der Gründe, warum gerade in diesen drei Orten so wenige Kinder geboren werden.

Hinzu kommen Bedingungen, die eine Familiengründung erschweren, so zum Beispiel in Heidelberg. Die Stadt habe eine sehr wissensbasierte Wirtschaftsstruktur, biete Arbeitsplätze vor allem an der Uni und in den Biowissenschaften, sagt Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Diese Stellen seien meist nicht familienfreundlich: Es gäbe wenig qualifizierte Teilzeitstellen, gesicherte Positionen würden erst spät erreicht, wenn überhaupt. Zudem gebe es für Familien nur relativ wenigen und teuren Wohnraum.

[] Familien treten selbstbewusster auf

Doch es sind ganz offensichtlich nicht nur schnöde Zahlen und statistische Werte, die die Wahrnehmung von Kindern bestimmen - sonst müsste Cloppenburg ja in aller Munde sein. Ist es aber nicht. Stattdessen im Fokus medialer Aufmerksamkeit: die Schwangerenbäuche und Bugaboos im Berliner In-Viertel Prenzlauer Berg mit seinem - allerdings nur vermeintlichen - Kinderreichtum.

Es sind eher ein veränderter Blick auf Kinder und ein selbstbewussteres Auftreten von Müttern und Vätern mit ihrem Nachwuchs, die Kinder vor allem in städtischen Milieus viel sichtbarer werden lassen als in früheren Jahrzehnten. "Gerade junge Eltern verbringen mehr Zeit in der Öffentlichkeit als früher", stellt Familienforscher Bujard fest. Ob Cafés, Restaurants oder die abendliche Feiern bei Freunden - mit größter Selbstverständlichkeit nehmen Mütter und Väter heute selbst kleine Kinder fast überall hin mit.

Die massive Ausweitung spezieller Eltern-Kind-Angebote für konsumbereite Mamis und Papis in den letzten Jahren schafft ein übriges, auch wenn manche Special-Interest-Geschäftsideen sich zum Glück nicht durchsetzen, so zum Beispiel das Mama-Baby-Kino, mit dem vor ein paar Jahren in München junge Mütter samt greinenden Säuglingen am Kulturleben teilhaben sollten. Sicher ist: "Kinder haben neue Sphären erobert, die starren Grenzen, innerhalb derer sie auftauchen, haben sich gelockert", so Bujard.

Bestärkt werden Eltern darin auch durch Gerichtsurteile, die Kindern und ihren Bedürfnissen immer mehr Raum gewähren. Der Krach, den Kinder beim Herumtoben und Ballspielen auf Spielplätzen erzeugen, sei "naturnotwendig", brachte es ein Gericht bereits in den neunziger Jahren auf den Punkt - zahlreiche ähnlich lautende Urteile folgten.

[] Demografie-Debatte rückt Kinder ins Blickfeld

Kinder gehören zum normalen Leben - mitsamt all dem Chaos und dem Lärm, den sie verbreiten. So lautet auch die Botschaft der Politik, wenn sie klarstellt, dass Kinderlärm nicht als "schädliche Umwelteinwirkung" zu betrachten ist - und damit nicht den gleichen starren Regelungen unterliegt wie etwa Straßenlärm. Oder wenn sie das Baurecht lockern will, um auch in reinen Wohngebieten den problemlosen Neubau von Kindertagesstätten zu erleichtern.

Ob Krippenplatzgarantie, Eltern- oder Betreuungsgeld - Politiker versuchen seit etwa einem Jahrzehnt verstärkt, bessere Bedingungen für Mütter und Väter zu schaffen. Und zwar ganz explizit auch, um die Geburtenrate positiv zu beeinflussen. Das war lange Zeit verpönt. "Es ist relativ neu, dass die Politik explizit bevölkerungspolitische Ziele formuliert", sagt Demografie-Expertin Kreyenfeld. In der Bundesrepublik habe man über Jahrzehnte hinweg darauf bestanden, dass es eine private Entscheidung von Frauen sei, ob sie Kinder bekommen, - und sich dadurch bewusst von Nazideutschland, aber auch der DDR abgegrenzt.

Dass die Politik sich inzwischen so deutlich mit der Demografie-Frage beschäftigt, schärft jedenfalls das öffentliche Bewusstsein dafür, dass Kinder für die "Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft wichtig sind", wie Bevölkerungsforscher Bujard sagt. Und das kann Eltern wiederum darin bestärken, sich offensiver zu verhalten.

Zusammengenommen führt das wohl dazu, dass Mädchen und Jungen in Deutschland zwar weniger werden, aber trotzdem oder gerade deshalb sehr präsent sind - auf Spielplätzen, in Cafés oder Biomärkten, aber auch im öffentlichen Bewusstsein. Und so kann es nicht nur einem Münchner Mittdreißiger so vorkommen, als seien überall Kinder.

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