Wahrnehmung mit Down-Syndrom:Welt aus Details

Stefan Duve

Stefan Duve lebt in München und hat das Down-Syndrom. Sein Traum: In der Gastronomie zu arbeiten.

(Foto: Manuel Stark)

Wie sehen Menschen mit Down-Syndrom ihre Umgebung? Wie gehen sie mit Emotionen um? Und wie kommunizieren sie? Eine besondere Zeitschrift erschließt eine Welt, mit der viele Außenstehende Berührungsängste haben.

Von Manuel Stark

Stefan Duve mag keine Freitage. An Freitagen sitzt er an einem Tisch und steckt kleine Plastikteile zusammen, die wie graue Legosteine aussehen. Das Herstellen von Fahrzeugteilen für BMW in der Caritas-Werkstatt ist eine eintönige Arbeit, und sie langweilt ihn. Für Aufregung sorgt alle paar Minuten sein Arbeitskollege Martin, wenn zu brüllen anfängt. "Er kann nichts dafür, hat eben so einen Tick. Aber ich mag es nicht, wenn jemand laut wird", sagt Duve. Immerhin verdient der 24-Jährige in der Werkstatt sein eigenes Geld.

Was Duve dagegen mag, ist sein Job als Bedienung im Münchener Café Netzwerk. Von Montag bis Donnerstag arbeitet er in der sozialen Einrichtung, die vom Verein "Netzwerk Geburt und Familie" betrieben wird. Eigentlich soll das Café langzeitarbeitslose Frauen dabei unterstützen, sich beruflich wieder zu integrieren, doch für Duve machen die Betreiber eine Ausnahme. Am liebsten würde er nur noch im Service arbeiten. "Das ist mein Traum", sagt er. Doch eine Stelle in der freien Wirtschaft zu finden, ist für Menschen wie Duve schwer. Er hat das Down-Syndrom.

Eine Welt voller Vorurteile

Katja de Bragança ist beinahe täglich mit den Vorurteilen konfrontiert, die über Menschen mit Down-Syndrom kursieren. Zwei Jahre lang leitete die Humanbiologin an der Universität Bonn ein Forschungsprojekt mit dem Titel: "Wie erleben Menschen mit Down-Syndrom die Welt? Wie sieht die Welt Menschen mit Down-Syndrom?" Die vorherrschende Lehrmeinung ging lange davon aus, dass Betroffene weder lesen noch schreiben könnten. Dass das falsch ist, weiß kaum jemand so gut wie de Bragança. Sie gründete 2000 in Bonn das Magazin Ohrenkuss, das seitdem alle sechs Monate erscheint. Die Texte stammen ausschließlich von Menschen mit Down-Syndrom, die darin ihre Sicht auf die Welt schildern. Finanziert wird das Projekt durch Abonnenten und Spenden.

"Menschen mit Down-Syndrom gelten als etwas dümmlich, dabei sind sie durchaus intelligent", sagt de Bragança und erzählt vom Erlebnis einer 26-jährigen Mitarbeiterin der Ohrenkuss-Redaktion: Als die junge Frau in einer Metzgerei wartete und an die Reihe kam, beugte sich die Verkäuferin über die Theke und hielt ihr mit den Worten "Na du, möchtest du mal etwas von unserer leckeren Wurst probieren?" an der Gabel ein Stück Salami hin. Die Autorin lehnte ab - und bat stattdessen darum, den Geschäftsführer zu sprechen.

"Es kursiert eine völlig falsche Vorstellung davon, wie diese Leute funktionieren", sagt Humanbiologin de Bragança. Viele seien im Umgang mit Menschen, die anders sind als sie selbst, noch immer unsicher.

Wechselnde Anforderungen belasten

Stefan Duve blieben solche Erlebnisse bei seiner Arbeit im Café Netzwerk bisher erspart. Nicht nur von den Gästen und den Kolleginnen - auch vom Leitungsteam, das vorwiegend aus Pädagogen besteht, fühlt er sich respektiert und angenommen. "Die sind alle nett zu mir und ich darf viel machen und ausprobieren", erzählt er. Besonders mag er das Kratzen der Kreide an der Aufstelltafel, wenn er das Tagesgericht aufschreibt. "Meistens irgendwas mit Nudeln." Das helle Klirren der Gläser beim Abwasch und das Lachen der spielenden Kinder sind ihm lieber als die Schreie von Martin in der Caritas-Werkstatt.

Auch wenn Duve in dem Café nur einen kleinen Betrag verdient, schätzt er die Abwechslung in seiner Tätigkeit - und dass er sich trotzdem an einem festen Tagesablauf orientieren kann. "Zuerst Tafel beschriften und sauber machen, dann Bedienen und freundlich sein. Am Schluss aufräumen", zählt Duve auf. Struktur ist ihm wichtig.

"Menschen mit Down-Syndrom verarbeiten neue Situationen nur langsam. Ihnen fällt es daher leichter, wenn Abläufe gleich bleiben. Zu häufig wechselnde Anforderungen belasten sie", erklärt Stefan Meir. Als leitender Psychologe der Psychiatrischen Institutsambulanz der St. Lukas-Klinik im baden-württembergischen Liebenau. Dass Stefan Duve sich im Service wohl fühlt, wundert ihn nicht. "Menschen mit Down-Syndrom sind besonders zugänglich. Es ist leicht, mit ihnen in Beziehung zu treten, weil sie sich gerne auf Kontakt einlassen", sagt Meir.

Das Gehirn als Fußballfeld

Das zeigt sich auch innerhalb der Ohrenkuss-Redaktion. Während der Produktion des neuesten Hefts mit dem Titel "Wer bin ich, wer bin ich nicht?", besuchte ein Heilpraktiker die Redaktion in Bonn und hielt einen Vortrag zur inneren Landschaft des Körpers. Er sprach davon, den eigenen Körper als Natur zu erleben. Mit Bergen, Flüssen, Wäldern und einem Meer. "Mein Gehirn sieht wie ein Fußballfeld aus. Und die Fußball-WM von 50 bis 2014 wird da gespielt", so beschreibt der sportbegeisterte Ohrenkuss-Autor Paul Spitzeck seine eigene Hirn-Landschaft.

Als sie vor einiger Zeit zu einem Heft mit dem Titel "Jenseits von Gut und Böse" recherchierten, besuchten die Mitglieder der Redaktion das KZ Buchenwald. Nach der Exkursion sprachen sie mit dem stellvertretenden Direktor der zugehörigen Stiftung über die gesammelten Eindrücke. Im Gespräch ergeben sich Fragen wie diese: Darf man sich in Buchenwald über das schöne Wetter freuen? "Es ist kompliziert wenn es Gut und Böse gibt. Zur selben Zeit", sagt Ohrenkuss-Autor Daniel Rauers.

Erleben im Hier und Jetzt

Redaktionsleiterin de Bragança erinnert sich daran, wie gebannt ihre Mitarbeiter den Worten des Historikers zuhörten. "Sie wollten das gedanklich so intensiv wie möglich durchleben", sagt sie. Menschen mit Down-Syndrom sind sehr emotional, bestätigt auch Meir. Der Psychologe ist davon überzeugt, dass sie sich "in Gefühle anderer Menschen außergewöhnlich gut hineinversetzen können". Andererseits falle es ihnen schwer, die nötige emotionale Distanz zu einem Thema zu wahren.

Stefan sitzt neben seiner Mutter am Küchentisch der gemeinsamen Wohnung und blickt konzentriert auf eine Bildermappe mit einem Einband aus hellgrünem Papier. Da ist Dennis, lachend während eines Ausflugs der Jugendgruppe. Da ist David, kreischend im kalten Wasser. Und natürlich Marion. "Schau dir mal ihr schönes Gesicht an. Das war meine Freundin, die Marion", erzählt Stefan Duve und tippt mit seinem rechten Zeigedinger eindringlich immer wieder auf das schwarz-weiße Bild, auf dem ein Teenager grinsend beide Zahnreihen zeigt.

"Kinder sind anstreglich"

"Ich habe ganz viele Freunde", erzählt Stefan und zeigt zuerst auf die Mappe mit Bildern von alten Schulkameraden und dann auf die lange WhatsApp-Kontaktliste seines Handys. Andere unterteilt er fast immer in Freunde oder Feinde. Sie sind entweder "nett", wie seine Kollegen im Café Netzwerk, oder "böse", wie der schreiende Martin aus der Caritas-Werkstatt. Dazwischen gibt es nichts.

Auch Psychologe Meir hat die Erfahrung gemacht, dass komplizierte Strukturen für Menschen mit Down-Syndrom nur schwer zu fassen sind: "Sie orientieren sich, ähnlich wie Autisten es tun, an einzelnen Details. Dadurch rückt der Blick für das Ganze in den Hintergrund."

Auch in ihrer Kommunikation legen Menschen mit Down-Syndrom den Fokus auf Einzelheiten. "Der Inhalt ist wichtig, nicht die Reihenfolge oder korrekte Zuordnung der Wörter", erklärt Ohrenkuss-Chefin de Bragança. Wenn die Autoren darum gebeten werden, Sätze aufzuschreiben, die sie witzig finden, entstehen so Beschreibungen wie diese: "Kinder sind anstrenglich. Und ab und zu mal gut gelaunt", oder "Das passiert jedem, wenn er stirbt: Gehirn abgesäbelt."

In ihrem neuesten Heft bleiben die Ohrenkuss-Autoren ernst. Sie fragen sich, wer sie selbst sind. "Ich glaube, dass ich ein guter und ehrlicher Mensch bin. Mittelpunkt meiner Familie. Was ich nicht möchte sind Schimpfwörter, die mich verletzen", schreibt Maria Trojer.

Für Menschen mit Down-Syndrom ist es nicht immer einfach, zu differenzieren - das gilt auch für ihr Empfinden von Zeit. "Vergangenheit und Zukunft sind für Menschen mit Down-Syndrom nur schwer einzuschätzen", sagt Meir. Ob die Auslöser für Emotionen Tage oder Jahre zurückliegen, spielt deswegen nur eine geringe Rolle. Durchlebt werden Ereignisse im Hier und Jetzt.

Auch Stefan Duve spricht über alle Dinge so, als würden sie gerade passieren. Noch wohnt der 24-Jährige in der Wohnung seiner Mutter, irgendwann möchte er aber mit seinem besten Freund Dennis in eine WG ziehen. Wenn man ihn danach fragt, wann es soweit ist sagt er nur "jetzt" und "bald". Obwohl seine Mutter die Idee einer eigenen WG unterstützt, ist diese nicht leicht umzusetzen. Auch Dennis hat das Down-Syndrom. Zwar gibt es eine von der Lebenshilfe München unterstützte Initiative, die Studenten billige Zimmer in einer solchen WG vermittelt, wenn diese im Gegenzug bereit sind, einige Fürsorgeaufgaben wie Einkaufen oder Begleitdienste zu übernehmen. "Ich würde es mir für meinen Sohn wünschen", sagt Petra Duve. Doch die Plätze sind rar und die Nachfrage groß.

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