Wachkoma:"Ich konnte alles sehen und hören, aber mein Mund bewegte sich nicht"

Wachkoma: Carola Thimm: Bis ich wieder ganz zu mir gekommen war, vergingen Jahre. Fünf insgesamt

Carola Thimm: Bis ich wieder ganz zu mir gekommen war, vergingen Jahre. Fünf insgesamt

(Foto: Karin Costanzo)

Viele Angehörige und auch Ärzte denken, der Patient bekomme im Wachkoma nichts mit. Carola Thimm kann das Gegenteil erzählen: Sie lag fünf Jahre im Koma und kam zum Sterben in ein Heim - dann wachte sie auf.

Protokoll: Lars Langenau

"Ich hatte einmal ein ganz anderes Leben. Und in dem erfüllte sich mit 35 Jahren auch mein großer Wunsch: Ich erwartete ein Baby. Wir bauten gerade unser Haus aus, damit es groß genug für drei Personen ist. Mein Job machte mir Spaß, ich hatte viele Hobbys. Alles ideal also.

Bis zu jenem Tag, als ich furchtbare Kopfschmerzen bekam und an die frische Luft ging. Es war der 31. Mai 2004 und ich war im fünften Monat schwanger. Draußen in der Feldmark bin ich umgefallen. Wurde ohnmächtig.

Als ich später im Krankenhaus wieder aufwachte, konnte ich noch alles. Ich konnte den Ärzten auch sagen, was ich früher für eine Krankheit hatte. Ich hatte schon einmal ein Aneurysma im Kopf, einen Arterienriss - ich habe zu dünne Adern im Hirn, oft verläuft dieser Defekt tödlich. Doch nachdem man mir die Arterien schon einmal mit Anfang 20 versiegelt hatte, galt ich als geheilt. Jetzt wurde ich abermals am Hirn operiert. Wie ich später erfuhr, hat man mir erneut ein Aneurysma geflickt, und sogar noch einen dritten Riss.

Allerdings gab es bei der Operation Komplikationen, eine massive Schwellung drückte auf mein Gehirn. Ein Teil meiner Schädeldecke musste geöffnet werden, bis mein Gehirn wieder kleiner war. Weil das Schädelteil später nicht mehr passte, wurde es durch Titan ersetzt. Mein vorderer Kopf ist sozusagen jetzt wertvoller als zuvor. Zunächst hatten mich die Ärzte nach der Operation in ein künstliches Koma versetzt, um mein Gehirn zu schützen. Nach Verringerung der Medikamente sollte ich eigentlich aus dem Koma aufwachen.

Im siebten Monat wurde meine Tochter geholt

Ich fiel aber ins Wachkoma. An diese anfängliche Zeit habe ich kaum noch Erinnerung. Nach zwei Monaten in diesem Zustand bekam ich im siebten Monat Wehen und meine Tochter wurde per Kaiserschnitt geholt. Die Ärzte rechneten damit, dass einer von uns sterben wird. Vielleicht auch beide. Nun, wir haben es beide geschafft.

Nur war mir das lange nicht bewusst: Fünf Jahre später war mir noch immer nicht klar, wer das kleine Mädchen ist, das so oft mit meiner Mutter zu Besuch kam und an meinem Bett spielte. Ich dachte, dass sie eine Verwandte sein musste, weil sie denselben Nachnamen trug. Ich sagte: 'Ich freue mich für meine Schwester, dass sie ein zweites Kind bekommen hat und ich bin ein wenig traurig, dass es bei mir nicht geklappt hat.' Meine Mutter nahm meine Hand, schaute mich an, und sagte zu mir: 'Das ist deine Tochter.' Dann begriff ich.

Es gab keinen richtigen Moment des Aufwachens, es war ein Prozess. Bis ich wieder ganz zu mir gekommen war, vergingen Jahre. Fünf insgesamt. Im Wachkoma konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich schlief nachts, hatte aber tagsüber die Augen offen. Ich versuchte mich zu artikulieren, aber niemand konnte mich verstehen. Ich konnte alles sehen und hören, aber mein Mund bewegte sich nicht. Ich konnte nichts machen.

Ganz am Anfang musste ich wohl auch noch zum Teil beatmet werden. Ich weiß nicht, wann das beendet werden konnte. Ernährt wurde ich anfangs mit einer Sonde, bis eine Therapeutin versucht hat, mich mit Joghurt zu füttern. Sie hatten das vorher nicht gemacht, weil die Gefahr besteht, dass man sich extrem verschluckt und daran erstickt. Es hat dann aber gut geklappt.

Dann haben sie mich normal gefüttert. Um die Pfleger zu entlasten und mich zu fördern, ist meine Mutter oft so gekommen, dass sie mir eine Mahlzeit geben konnte. Als ich wieder essen konnte, hat meine Familie mich ins Krankenhausrestaurant gefahren - im Sommer auf die Terrasse unter den Sonnenschirm. Sie haben mich mit Eis oder Kuchen gefüttert - das war schön.

Ich war ein wenig traurig, dass ich denen nichts sagen konnte, oder alternativ ihnen mit den Händen etwas zeigen. Ich dachte, dass das ein Nebeneffekt meiner Krankheit ist, weil ich gar nicht wusste, was Wachkoma ist, und dass ich das habe.

Es dauerte Jahre, bis ich wieder sprechen und gehen konnte

Es dauerte Jahre, bis ich wieder sprechen und gehen konnte. Die Tage waren gleichförmig, aber ich störte mich nicht daran. Ein Zeitgefühl hatte ich nicht. Glücklicherweise war ich durch die Medikamente sediert. Das Leben zog an mir vorbei, lange war ich mit meinen Gedanken allein.

Zunächst kamen die Erinnerungen zurück. Mir war irgendwann klar, dass ich im Krankenhaus war, also musste ich krank sein. Aber welche Krankheit, das blieb mir lange unklar.

Nach dem Aufwachen konnte ich mich zunächst nur an lange zurückliegende Ereignisse erinnern: Kindergarten, Grundschule, wie meine Klassenlehrerin hieß, das Gymnasium, mein Studium - und meine heiß geliebten Reisen. Einige Monate zuvor hatte ich noch 30 faszinierende Tauchgänge auf Palau in Ozeanien absolviert, die kehrten plötzlich so deutlich zurück, als seien sie gegenwärtig.

Interessanterweise kamen nur die positiven Erinnerungen. Von den Schmerzen, den Wehen, der Beerdigung meines Vaters während dieser Zeit bekam ich nichts mit. Mein Gehirn ließ das nicht zu. Es weigerte sich, negative Dinge aufzunehmen.

Nach und nach erkannte ich auch die Besucher an meinem Krankenbett. Meine Mutter besuchte mich jeden zweiten Tag, mein Mann kam oft, auch Freunde. Das Durchblättern alter Fotoalben half mir sehr, meine Erinnerungen zurückzubekommen. Die Funktion meiner kaputten Hirnzellen wurde durch gesunde Zellen übernommen.

Ein Arzt sagte, ich hätte keine Chance

Oft standen Ärzte zur Visite neben mir und diskutierten über meinen Fall. Einer dieser Ärzte hatte mich längst aufgegeben. Wie ich später erfuhr, sagte er eines Tages zu meinen Eltern, ich hätte keine Chance - und wenn doch, dann würde ich nie wieder gehen oder stehen können. Denken kann man so was ja, aber bitte doch nicht sagen! An meinem Krankenbett hat, Gott sei Dank, niemand so geredet.

Trotzdem war ich optimistisch, weil die Pfleger mir offenbar an meinen Augen meine Wünsche ablesen konnten und sie erfüllten. Tatsächlich konnten sie nichts ablesen, weil ich gar keine Mimik hatte, aber sie spürten wohl intuitiv meine Bedürfnisse. Die Pfleger und die Therapeuten kümmerten sich rührend um mich.

Die Highlights meines Lebens

In der Reha versuchten sie alles mit mir: Physiotherapie, Logopädie, sie setzten mich in diesem Zustand auf ein Stehfahrrad, hin und wieder sogar auf ein echtes Pferd, und stiegen mit mir Treppen. Aktiv darf man sich das im Wachkoma nicht vorstellen. Da war immer einer rechts und einer links und die führten meine Bewegungen aus. Ich habe mich immer gefreut, wenn ich etwas erleben durfte, wenn jemand etwas mit mir gemacht hat. Wenn etwa die Taxifahrerin kam und wir zur Reittherapie fuhren oder sich eine nette Physiotherapeutin um mich kümmerte. Das waren die Highlights meines Lebens.

Ich schaffe das - das war mein beherrschender Gedanke. Ich hatte einen starken Willen und wollte unbedingt wieder auf die Beine kommen. Doch ich musste alles wieder lernen wie ein kleines Kind. Es half, dass man mich ansprach und mir vieles erzählte, was passierte. Dass man mich Carola nannte und nicht Patient. Ich freute mich über viele Dinge. Etwa wenn meine Mutter Musik auflegte, die ich mochte. Irgendwann wusste sie nicht mehr, was sie mir erzählen sollte, und begann mir Bücher vorzulesen.

Meine Mutter war dann auch die Erste, die mitbekam, dass meine Mimik zurückkehrte: Wenn es spannend war, wurden meine Augen groß, war es lustig, verschoben sich meine Mundwinkel nach oben, war es langweilig, schaute ich zur Seite. Andere Verwandte sagten: 'Ach was, da zucken nur die Nerven ein wenig.' Tenor war: Wir glauben nicht, dass sie das mitbekommt, aber mach mal weiter, kann ja nicht schaden. Aber meiner Mutter und den Therapeuten gab es Hoffnung. Allerdings war meine Mimik nicht so klar, dass sie auch den Ärzten genug Hoffnung gaben.

Ins Pflegeheim, eingeliefert in der Annahme, dass ich da sterben werde

Im Dezember 2007 kam ich in ein Pflegeheim. Eigentlich wurde ich dort eingeliefert in der Annahme, dass ich da sterben werde. Die Ärzte hatten kaum noch Hoffnung, die Krankenkasse war nicht mehr bereit, den teuren Aufenthalt im Krankenhaus und in der Reha zu bezahlen. Kann ich auch nachvollziehen. Das Heim war sehr hilfreich für mich. Letztendlich haben mich die Leute da mit ihren guten Ideen gerettet.

Ich war die Jüngste im Haus und habe in der ersten Phase mehr Aufwand verursacht als die Hundertjährigen. Weil ich so stark gähnte, mussten sie mir mehrfach am Tag den Kiefer wieder einrenken. Es stellte sich heraus, dass meine Müdigkeit und Inaktivität zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur noch an den Medikamenten lag. Sie wurden umgestellt - zwei Wochen später erwachte ich aus dem Wachkoma. Dies soll keine Beschwerde sein, weil mir die Medikamente zunächst das Leben gerettet haben. Aber mein Körper hatte sich wohl inzwischen geändert, und benötigte andere Medikamente - oder eine andere Menge. Ich danke den Mitarbeitern im Altenheim noch heute, dass sie so auf mich geachtet und meine Veränderungen wahrgenommen haben.

Lange habe ich nur gelegen, nun durfte ich endlich in den Rollstuhl. Allmählich reagierten meine Gesichtsmuskeln, schließlich kam meine Mimik zurück. Und diesmal bemerkte es nicht nur meine Mutter. Zunächst kommunizierte ich über die Tauchersprache: Ich formte mit Daumen und Zeigefinder ein O, das ist das Okay-Zeichen der Taucher. Erst da begriffen wirklich alle, dass ich alles seit langem mitbekommen hatte. Aus meinem Mund bekam ich aber noch lange kein Geräusch - geschweige denn ein Wort - heraus. Das dauerte Monate.

Alles was ich liebte, darf ich nicht mehr

Eine Psychotherapie habe ich nie gebraucht. Es gab keinen Punkt, an dem ich mich aufgegeben hätte. Ich wollte immer leben. Merkel wurde Bundeskanzlerin, nachdem ich ins Koma fiel, und war es noch immer, als ich aufwachte. Mich hat nur gewundert, dass wir einen deutschen Papst hatten. Mir half, dass ich an Gott glaube. Er hat mir dreimal das Leben geschenkt, das finde ich ziemlich großzügig von ihm. Ich habe mir meine eigene religiöse Theorie zusammengebastelt, in der Gott sagt: 'Hier oben kann ich dich nicht brauchen, die Hölle hast du nicht verdient, also kannst du auf der Oberfläche bestimmt noch was für mich tun.' Wenn ich anderen Leuten helfen kann, und sei es nur durch meine Geschichte, dann ist das doch schon etwas.

Heute ist meine Tochter elf. Sie ist ganz anders als ich, ein richtiges Mädchen. Ich war in diesem Alter genau das Gegenteil. Mit meinem Mann bin ich zwar noch verheiratet, aber nicht mehr zusammen. Meine Tochter lebt jetzt bei ihm. Ich sehe sie alle 14 Tage. Wir haben ein gutes Verhältnis. Ich bin nicht eifersüchtig auf die neue Freundin meines Mannes, es ist alles gut so. Ich freue mich sogar, dass sie für meine Tochter da ist. Ich war einfach zu lange weg. Aber dafür kann ich ja nichts.

Alles was ich liebte, darf ich nicht mehr: Tauchen, Flugreisen, Auto oder Motorrad fahren und auch nicht mehr Trompete spielen. Zu viel Druck für den Kopf. Dabei hatte ich so viel Hobbys: Aikido, Karate, Kickboxen, bin gerne geritten, gejoggt, geschwommen. Irgendwann sagte ich mir, dass ich etwas anderes finde, das mir Spaß macht. Inzwischen kann ich wieder Gitarre und Blockflöte spielen sowie Radfahren. Ich schwimme wieder, mache Gymnastik und Zumba. Wenn man die Alternativen sieht, kann das Leben wieder lebenswert werden. Im Fitnesscenter habe ich übrigens meinen neuen Partner kennengelernt. Da hatte ich bei so viel Pech auch mal Glück.

Seit 2011 lebe ich in einer eigenen Wohnung. Ich bin leicht verzögert in manchen Dingen, kann aber für mich selbst sorgen. Da es mir schwerfällt, mir neue Dinge zu merken, bleibe ich wohl Frührentnerin. Die Aneurysmen sind alle verkapselt, können sich aber neu bilden. Alle fünf Jahre werde ich durchgecheckt. Ich möchte meine Zeit im Wachkoma niemandem wünschen, aber wenn es passiert, muss man daraus das Beste machen. Selbst wenn man das Liebste loslassen muss, findet sich immer etwas Neues. Habt Mut, das Leben geht weiter. Auch wenn es nicht immer so gelingt, wie wir uns das vorstellen."

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Carola Thimm, 47, lebt heute in ihrer Heimatstadt Preetz. 2015 ist ein Buch über ihre Erlebnisse erschienen: "Mein Leben ohne mich. Wie ich fünf Jahre im Koma erlebte", Patmos.

Überleben

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