Vorzeige-Pflegeheim:"Wir arbeiten werteorientierter"

Altenheim AWO

Immerhin viele gute Ansätze: das Lore-Lipschitz-Haus in Berlin-Lichtenrade.

(Foto: AWO/oH)

Ins Altenheim will niemand, da ist man nur noch eine Nummer bis zum Tod? Dass es auch anders gehen kann, will ein Pflegeheim in Berlin beweisen. Eines seiner Geheimnisse sind tierische Bewohner.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Nach Berichten über Günter Wallraffs Undercover-Recherche in einem Münchner Altenheim, die skandalöse Zustände offenbarte, haben uns zahlreiche Leserreaktionen erreicht. So viele, dass wir einige der Leserinnen und Leser besucht haben und ihre Geschichten hier in lockerer Folge vorstellen. Heute: das Lore-Lipschitz-Haus in Berlin-Lichtenrade.

"Können wir ins Bad?", fragt die Pflegedienstleiterin. "Nein, da ist nicht aufgeräumt!", sagt die Wohnbereichsleiterin. Ist es dann doch, einigermaßen, das zweite Bewohnerbad im zweiten Stockwerk des Lore-Lipschitz-Hauses in Berlin-Lichtenrade. Ein bisschen Zeugs liegt herum, vor allem aber liegt hier: eine Katze auf einem Rollstuhl. Sie lässt sich ungern von ihrem Platz vertreiben - überaus entspannt wirken auch die anderen Katzen im Pflegeheim. Fast als würden sie es sich selbst auf ihre alten Tage hier noch mal richtig gemütlich machen wollen. Dabei senken sie den Altersdurchschnitt der Bewohner (82 Jahre) erheblich.

Das Lore-Lipschitz-Haus gilt als Vorzeige-Pflegeheim. Zumindest seinem Betreiber, der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Warum also nicht hier starten, um die Frage zu beleuchten, ob es nicht auch positive Aspekte der Pflege und in vielen Einrichtungen gibt - abseits aller skandalträchtigen Berichte über unhaltbare Zustände in deutschen Pflegeheimen?

Zu Besuch also in Lichtenrade, in einem der 300 Pflegeheime Berlins, einem von 850 AWO-Pflegeheimen bundesweit. Im Gepäck: sehr viele Fragen. Und die bange Erwartung, dass sich hier vielleicht ein Betreiber reinwaschen will von den Pauschalvorwürfen über die Branche, indem er ein möglichst gut geführtes Heim vorzeigt, das man mit einem einzigen Besuch gar nicht genau bewerten kann?

Außer Pflegedienstleiterin Rita Rusnak, der Assistentin der Einrichtungsleitung Barbara Blech und dem AWO-Referenten für Altenhilfe, Claus Bölicke, sind auch AWO-Vorstandsmitglied Martina Arends und Pressesprecher Marius Mühlhausen gekommen. Ein freundliches Empfangskommitee, das zwei Stunden lang geduldig alle Fragen beantwortet. Mit den Bewohnern zu sprechen, ist dagegen eher nicht vorgesehen.

Jeder hat seinen eigenen Balkon

Doch beim Gang durch das Haus wird einiges klar. Allein baulich gibt es viele Vorzüge gegenüber anderen Heimen. Zwar stehen den 160 Bewohnern (168 können aufgenommen werden, das Haus ist also fast voll belegt) in dem Siebzigerjahre-Bau bis auf acht Einzelzimmer vor allem Doppelzimmer zur Verfügung, doch jedes einzelne davon hat einen großen Balkon - und alle sind miteinander verbunden. Wer also noch laufen oder im Rollstuhl gefahren werden kann, kann das hier an der frischen Luft, ausgiebig, ohne sich allzu weit von seinem Zimmer zu entfernen. Unter anderem auch im Garten des Heimes, wo Bewohner unter Anleitung Kräuter anpflanzen. Oder in der Umgebung, die an diesem Sommertag geradezu paradiesisch anmutet: Lichtenrade ist ein Berliner Stadtteil weit abseits des Trubels, voller kleiner Einfamilienhäuschen und hochgewachsener Linden. Es duftet intensiv nach Lindenblüten. Idyllischer geht es kaum.

Auch das Innere des Hauses wirkt freundlich. Die Flure sind breit und hell, die Doppelzimmer sind zwar funktionell und zurückhaltend eingerichtet, doch man hat sich sichtlich bemüht, mit möglichst hellen Farben eine erträgliche Atmosphäre zu schaffen. Wer es ins Einzelzimmer geschafft hat (kostet etwa 90 Euro mehr im Monat, es gibt Wartelisten), kann mehr eigene Möbel aufstellen. Eine Angehörige bringt ihrer Mutter immer eigene Bettwäsche, damit sie sich wohler fühlt - die müsse sie dann allerdings auch selber waschen, berichtet die Pflegedienstleiterin.

Eigener Zahnarztstuhl, eigenes Frisörzimmer, eigener Pool

Es gibt einen Hundebesuchsdienst (zweimal die Woche kommt ein Dackel zum Spielen), im Erdgeschoss ein eigenes Frisörzimmer, sogar ein Zahnarztzimmer mit Behandlungsstuhl, damit die Bewohner sich beschwerlich weite Wege sparen können. Und, darauf ist man hier besonders stolz: ein eigenes kleines Schwimmbad, inklusive Bademeister und Bewegungstherapeuten; nachmittags wird es an Gruppen von außerhalb vermietet. Noch stolzer zeigen die Mitarbeiterinnen nur noch den "Snoezel-Raum": eine Art Wohlfühl-Oase, in der besonders unruhige Bewohner unter Anleitung von Therapeuten mithilfe von Sinneseindrücken wie sanfter Musik, gedämpftem Licht, Farbspielen und Düften wieder zu sich selbst finden sollen. Runterkommen, abschalten und die eigenen Sinne wieder spüren. Sowas gibt es auch anderswo - aber hier ist es besonders hell eingerichtet. "Wäre nicht schlecht, wenn auch das Personal das regelmäßig nutzen könnte", lacht Barbara Blech.

Und es gibt weitere Vorteile: Das Heim ist an das "Berliner Modell" angegliedert, ein Projekt der AOK, weshalb es hier festangestellte Ärzte gibt. Heimärzte, Allgemeinärzte und Internisten mit zusätzlicher Ausbildung in Gerontopsychiatrie kümmern sich um die Bewohner - auch nachts und am Wochenende, in Rufbereitschaft. Damit habe man die besten Erfahrungen gemacht, berichtet Rusnak, wenn ein Heimbewohner hingegen bei der Versorgung durch seinen Hausarzt bleibe, was jedem freisteht, funktioniere das im Vergleich weniger gut.

"Wir brauchen einfach mehr Personal"

Denn es gibt viel zu dokumentieren, seit Jahren immer mehr, klagt man auch hier über den Pflegenotstand. Nicht nur die Ärzte, auch die Pfleger und die Heimleitung müssen jederzeit gegenüber der Heimaufsicht oder dem medizinischen Dienst der Krankenkassen (MdK) ihre Arbeit nachweisen können. Da trifft es sich gut, wenn die Ärzte gleich im Haus sind, Medikamente direkt angeordnet werden können und nicht erst über Umwege, bei denen viel falsch laufen kann.

Trotzdem: Auch hier, wo man mit der eigenen Arbeit so zufrieden ist, dass man sagt: "Ich finde es gut, so wie es ist" (Rusnak), wird Kritik am deutschen Pflegesystem geübt. "Es steht und fällt alles mit dem Personal", sagt die Pflegedienstleiterin, und obwohl sie überzeugt sei, mit dem eigenen, motivierten und engagierten Team sehr viel Glück zu haben, weiß sie auch: "Wir brauchen einfach mehr Personal. Das ist die Situation, an der wir alle kranken. Es stehen nicht genügend Fachkräfte zur Verfügung, nicht nur in unserer Einrichtung, das ist ein bundesweites Problem. Die Altenpflege hat leider keinen guten Stand - warum auch immer."

Headhunter aus Bayern

Claus Bölicke hat ein paar Theorien darüber, warum das so ist. Nicht nur der schlechte Ruf in der Öffentlichkeit und die vergleichsweise schlechte Bezahlung sorgten dafür, sondern auch ein paar Fallstricke in der Gesetzgebung. Hinzu komme der zunehmende Wettbewerb in der Pflege, der die Situation verschärfe.

"Es gibt Anbieter, die schon an den Pflegeschulen Absolventen zu Konditionen abwerben, die an Tarifverträge gebundene Wohlfahrtsverbände wie die AWO nicht leisten können", so Bölicke. Gerade aus Bayern, wo jahrelang die Ausbildungskapazitäten heruntergefahren worden seien, kämen Headhunter in die neuen Bundesländer, um die besten Fachkräfte abzuwerben. Den jungen Leuten werde sogar bei der Wohnungssuche in München geholfen. Auf der anderen Seite würden viele private Anbieter einen Teil des Geldes wiederum bei Nicht-Fachkräften einsparen, da gehe die Lohnspirale immer weiter nach unten. Was Probleme in der Versorgung nach sich ziehen könne, mit den teils bekannten und mitunter katastrophalen Konsequenzen auch für die Bewohner.

Wettbewerb um zu wenige Fachkräfte

"Als die Pflegeversicherung eingeführt wurde, war ein erklärtes Ziel, in dem Sektor marktwirtschaftliche Bedingungen zu etablieren", so Bölicke, "und der Wettbewerb wird jetzt über den Preis geführt. Wenn ich am Preis drehen will, kann ich in diesem personenbezogenen Dienstleistungssektor nur an den Löhnen drehen. Dadurch ist in den letzten Jahren eine Lohnspirale nach unten entstanden. Das ist das Problem in der Altenpflege." Und nicht zuletzt: Die Altenpflege-Ausbildung kostet nach wie vor Geld - auch den Schüler selbst. Aber zumindest dieses Problem wolle die Bundesregierung ja nun angehen.

Der monatliche Eigenanteil für Bewohner nach Abzug der Pflegekassenleistung liegt im Lore-Lipschitz-Haus derzeit bei 1085,70 für ein Doppelzimmer bei Pflegestufe 1 und bei 1423,60 Euro für ein Einzelzimmer etwa bei Pflegestufe 3.

"Ich bin überzeugt, dass wir werteorientierter arbeiten", sagt AWO-Vorstandsmitglied Martina Arends auf die Frage nach den Vorteilen gegenüber Mitbewerbern, "und das kommunizieren wir auch unseren Mitarbeitern. Wir sind gemeinnützig aufgestellt, bei uns steht das Gewinnstreben nicht an erster Stelle. Selbstverständlich muss es sich auch hier unterm Strich rechnen, sonst verschwindet man vom Markt. Aber wir erwarten keine großen Gewinnmargen. Das ist nicht unser Ziel. Das ermöglicht eine andere Art der Arbeit - für die Mitarbeiter und für die Bewohner."

Ein verbindlicher Sozialtarif, neue fachsprachliche Ausbildungsmodelle für ausländische Mitarbeiter - der Wohlfahrtsverband arbeite an vielen Baustellen, die das zunehmende Problem des mangelnden Personals bei sich zuspitzender Alterspyramide zumindest entschärfen solle.

Und in der Tat hat man den Eindruck, dass hier vieles schon begriffen wurde, was anderswo noch im Argen liegt. "Es geht hier nicht um uns, es geht hier um die Bewohner" - allein den Satz von Barbara Blech würde man in Pflegeheimen gerne öfter hören. Aber kommt das auch so an bei den Bewohnern?

Ihr Mann sei richtig aufgeblüht

Einer zumindest ist bereit zu reden, auf Anhieb: Dieter Wolfgang Arbeit, 68, sitzt nach einem Schlaganfall im Rollstuhl. Er kümmere sich lieber nicht um die Angelegenheiten anderer, deshalb könne er nichts Negatives sagen. Das einzige was ihm wirklich fehle, sei seine Arbeit als Kfz-Mechaniker, aber: "Mir geht es gut, weil ich noch klar denken kann." Es gebe auch hier genügend Bewohner, die meckern würden, über jeden einzelnen Tagesordnungspunkt, aber das sei seine Sache nicht. Er sei zufrieden mit dem Haus, das Personal sei freundlich, er fühle sich gut versorgt. Unzufrieden sieht er auch nicht aus, die Augen blitzen hellwach. Aber ist er repräsentativ?

Eindeutiger ist eine Begegnung an der Bushaltestelle, weit entfernt vom Pflegeheim. Ich frage eine Dame mit Köfferchen, warum zwar ein Bus zum Heim, aber offenbar keiner wieder zurück fahre zur S-Bahn nach Mitte. "Ringverkehr", lautet die Antwort. Zweite Frage: Ob sie zufällig einen Angehörigen in diesem Pflegeheim hat? Ja, hat sie, strahlt die Dame jetzt, und zwar ihren Mann. Den habe sie als Schlaganfallpatienten zwar jahrelang zuvor zu Hause gepflegt, aber nach einer schweren OP sei das nicht mehr möglich. Ob er sich wohl fühle? Absolut, er sei richtig aufgeblüht in dem dreiviertel Jahr, seit er nun im Lore-Lipschitz-Haus lebe. Sie selbst hätte das nie erwartet, man kenne ja die Berichte über die Heime, aber sie müsse ihn gar nicht mehr so oft besuchen, er fühle sich dort offenbar richtig zu Hause. Die Dame wirkt verblüfft - aber erleichtert.

Ein Ende in Würde?

Vielleicht gibt es das wirklich: Heime, die versuchen, alles für ihre Bewohner zu tun. Die ihnen ein Zuhause bieten für ihren oft beschwerlichen Lebensabend, und dabei vor eigenen Anstrengungen nicht zurückschrecken. Die sich mit den komplizierten Modalitäten des Pflegesystems arrangieren und bei aller Arbeit trotzdem nicht vergessen, dass es am Ende vor allem um eines geht: einen würdigen Umgang mit dem Alter.

Die Katzen jedenfalls im Lore-Lipschitz-Haus wirken ausgesprochen zufrieden - und gut gepflegt. Dass das den Bewohnern gut tut, die ihre Katzen in ihr letztes Zuhause mitnehmen dürfen, und auch den anderen, solange sie keine Katzenallergie haben, das glaubt man gerne.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: