Vor Kurzem saß ein Richter auf seinem erhöhten Platz in einem LED-beleuchteten Kunststoff-und-Teppich-Gerichtssaal in der Berliner Kirchstraße und gab der Welt einen Einblick in sein politisches Denken. Auf der Anklagebank: eine Aktivistin der "Letzten Generation", die sich ein paar Wochen zuvor aus Protest gegen die Klimazerstörung auf einer Straße festgeklebt hatte. Die junge Frau hatte vor Gericht erklärt, sie wolle niemandem schaden. Im Gegenteil, sie wolle mit ihrem Protest das Leben auf der Erde schützen. "Kakerlaken auch?", entgegnete der Richter schnippisch. "Und die Dinos sind schließlich auch ausgestorben. Der Mensch wird sowieso aussterben, davon bin ich fest überzeugt. Das lässt sich nicht verhindern, dafür ist er zu dumm."
Wenn Richterinnen oder Richter ihre persönliche Meinung zu Dingen zum Besten geben, die nicht juristisch relevant sind, betreten sie immer einen schmalen Grat. Einerseits sollen sie natürlich keine gesichtslosen Jura-Automaten sein. Es ist gut, wenn sie eine persönliche Note einbringen. Sie sollen auch nicht bloß Paragrafen herunterrattern. Sie sollen als Menschen sprechen. Es ist sinnvoll, wenn sie den Angeklagten auf eine Weise ins Gewissen reden, die möglichst auch etwas bewirkt, das heißt: nicht formelhaft, sondern authentisch. Andererseits kann es schnell ins Übergriffige kippen, wenn ein Amtsrichter etwa meint, die "Dummheit" der Menschheit bewerten zu müssen.
Am Landgericht Stuttgart stand vor ein paar Jahren einmal der Vater des Schul-Amokläufers von Winnenden vor Gericht, weil er fahrlässigerweise seine Sportwaffe nicht ordentlich vor dem Kind gesichert hatte. Er wurde schuldig gesprochen, und bei der Urteilsbegründung wandte sich der Vorsitzende Richter ihm zu: "Wir wären gerne mit Ihnen ins Gespräch gekommen. Sie hätten nicht befürchten müssen, dass diese Kammer Ihnen den Respekt versagt, den Sie verdient haben." Der Richter führte noch aus: Indem der Vater so hartnäckig geschwiegen habe, hätte er es "vielen Menschen" schwer gemacht, ihn zu respektieren. Und: Der Richter erzählte dann ziemlich viel aus seinem eigenen Leben. Von "Freud und Leid", die das Erziehen von Kindern mit sich bringe. Alle mussten zuhören.
So schlimm ist es zum Glück ganz selten. Angeklagte dürfen auch mal unsachlich sein. Richter dürfen es nicht. Das beherzigen fast alle. Kaum je überzieht eine Richterin so sehr, wie es kürzlich eine Amtsrichterin tat, die im Schnellgericht am Tempelhofer Damm in Berlin zu einem Dieb sagte, der in seiner Bewährungszeit rückfällig geworden war: "Was soll die Scheiße?" Und, als säße sie nicht nur über seine Straftat zu Gericht, sondern gleich über sein ganzes Leben: "Mit 26 Jahren noch bei den Eltern leben, ts, ts, ts..."
Worauf es eigentlich nur eine angemessene Antwort gibt. Hohes Gericht, ich wüsste nicht, was Sie das angeht.
An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten.
(Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))