Kolumne "Vor Gericht":Der Aushang neben der Herrentoilette

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Dieser Schriftzug hängt außen - der Schaukasten mit Benachrichtigungen innen. (Foto: Taylan Gökalp/dpa)

Es ist die Pflicht der Justiz, Menschen über ihre Entscheidungen in Kenntnis zu setzen. Doch was, wenn sie nicht erreichbar sind? Dann ist ein Zettel im Gerichtsflur rechtlich so gut wie ein Brief nach Hause.

Von Ronen Steinke

Wer heute noch Witze über Beamte reißt, die angeblich per Faxgerät kommunizieren, keine Telefondurchwahl haben oder bloß mittwochs von zehn bis elf zu sprechen sind, der hat vielleicht noch nicht mitbekommen, wie innovativ die Kommunikation in der Strafjustiz mitunter läuft. Nämlich per öffentlichem Aushang.

Einer meiner liebsten Orte in dem schrullig verwinkelten Gebäude von Deutschlands größtem Strafgericht, dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten, ist ein etwas abgeschiedener Flur im Erdgeschoss. Unverputzter Backstein, quietschendes Linoleum. An den Wänden hängen lauter klein beschriebene DIN-A4-Zettel. Hier will die Justiz etwas sagen. Auf eine einzigartige Art und Weise. "In der Strafsache gegen Jennifer S.", so steht da zum Beispiel, werde diese unbekannte Frau "hiermit über die öffentliche Zustellung einer Entscheidung zum oben genannten Geschäftszeichen benachrichtigt. Das Schriftstück kann in der Geschäftsstelle der Abteilung 318 in Raum K 2014 durch einen Berechtigten eingesehen werden."

Aha. Was heißt das? Wird nicht verraten. Es muss als Information genügen! Ringsherum hängen noch weitere, fast gleichlautende Benachrichtigungen, zum Beispiel für einen Herrn Georgi T., einen Herrn Artur S., einen Herrn Maik J., einen Herrn Alexander T., eine "Frau S. L. Accent Hochbau GmbH" (?) und noch etwa 20 Personen mehr, natürlich dort mit ausgeschriebenen Nachnamen. Alle paar Tage werden diese Zettel ausgewechselt. Gegen neue.

Auf den Zetteln der düstere Hinweis: "Durch diese öffentliche Zustellung können Fristen in Gang gesetzt werden."

Wer sind diese Menschen? Was sind ihre Geschichten? "Zur Zeit unbekannten Aufenthalts", steht unter ihren Namen. Die Justiz bemüht sich hier rührend, ihre Pflicht zu tun. Sie muss Menschen Bescheid sagen, wenn sie Entscheidungen trifft. Und das ist manchmal gar nicht einfach. Andererseits: "Öffentliche Zustellung" ist schon auch ein kreativer Name dafür, dass das Amtsgericht diese Benachrichtigungen beziehungsweise Bitten um Kontaktaufnahme dann nicht etwa ins Internet stellt, sondern in diesem Flur aufhängt. Und nur dort. Unweit der Herrentoilette und des Wegweiserschildes "Gebäude C, B 042 - B 059".

Die Vitrine mit den A4-Zetteln hängt auch nicht etwa außen zur Straße hin, wo sie, ganz ordinär, jeder Passant sehen könnte. Man muss schon durch den Metalldetektor ins Gebäude hineingegangen sein, und dann muss man natürlich wissen, wo die Vitrine ist. Auf den A4-Zetteln steht auch noch der düstere Hinweis: "Durch diese öffentliche Zustellung können Fristen in Gang gesetzt werden, nach deren Ablauf Rechtsverluste drohen."

Weiß Jennifer S., dass hier eine Nachricht auf sie wartet? Und Maik J.? Ahnt er etwas? Wartet er vielleicht sogar dringend auf ein Zeichen vom Gericht und wundert sich, dass gar nichts kommt von dort? Rechtlich ist ein solcher Aushang im Flur übrigens so gut wie ein Brief nach Hause. Die Prozessordnung von 1879 macht es möglich. Auch wenn ich fast glaube, dass ich der Einzige bin, der hier öfter mal stehen bleibt und liest.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker)
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