Vom Schwerverbrecher zum Sozialunternehmer:"Der Knast brachte die guten Seiten in mir zum Vorschein"

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Volkert Ruhe saß wegen Drogenschmuggels im Gefängnis. Heute macht er Jugendlichen klar, was sie riskieren, wenn sie kriminell werden - und wie es in Santa Fu wirklich zugeht. Aus der Serie "ÜberLeben".

Protokoll von Lars Langenau

Volkert Ruhe in seiner Zelle in Santa Fu (Foto: Volkert Ruhe)

"Ich bin in einem Kaff am Rande des Harzes aufgewachsen. Meine älteren Geschwister haben alle früh geheiratet, um der Situation zu Hause zu entfliehen. Zum Schluss waren nur noch ich und meine jüngste Schwester da, für uns waren die Alkoholexzesse meines Vaters kaum zu ertragen. "Geh auf dein Zimmer", sagte er mir immer vor seinen Prügelorgien. Da musste ich dann manchmal stundenlang warten, bis er kam und mich mit einem Schürhaken verprügelte.

Ich hatte also keine schöne Kindheit, doch das ist nicht der Grund, warum ich kriminell wurde. Ich hatte aufgrund meiner Vorgeschichte nur eine höhere Wahrscheinlichkeit abzurutschen als Menschen aus wohlbehüteten Familien. Verantwortlich bin ich aber trotzdem selbst - und diese Verantwortung habe ich auch übernommen. Ich wurde zu 13 Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Knapp acht Jahre habe ich verbüßt.

Mit 15 Jahren überraschte ich meinen Vater dabei, wie er sich an meiner jüngeren Schwester verging. Erst bedrohte er mich mit einem Messer, dann spuckte er mich an und schließlich warf er mich aus der Wohnung. Ich suchte mir eine verlassene Gartenlaube mit einer alten Couch. Fast zwei Jahre hauste ich dort. Ich wusch mich in der Regentonne und ging trotz der Umstände jeden Morgen zu meiner Ausbildungsstätte. Der Lohn war zu wenig, um davon zu leben. Mitte des Monats war ich pleite und hatte Hunger.

Ich begann, Lebensmittel zu stehlen. Später klaute ich auch Zigaretten. Schließlich kamen kleine Einbrüche hinzu, mit ein paar Freunden räumte ich einen Kiosk aus. Mit 18 musste ich zum ersten Mal für drei Monate in den Jugendknast. Ich erinnere mich, dass es dort kalt und trostlos war und ich mit anderen, bereits erwachsen Häftlingen zusammensaß.

Ich war zu einer Geldstrafe verurteilt worden, die ich natürlich nicht zahlen konnte. Mein Vater dachte nicht daran, mir zu helfen, sondern drängte drauf, dass ich in den Knast kam. Eigentlich hätte er dort sitzen müssen. Doch für das, was er seinen Kindern angetan hatte, wurde er nie zur Verantwortung gezogen. Vor ein paar Jahren fiel er besoffen die Kellertreppe runter, blieb liegen und erfror.

Ich beendete meine Lehre ohne Abschluss, weil ich durch die theoretische Prüfung fiel. Nach Hamburg bin ich mit 20 Jahren durch eine Drückerkolonne gekommen, als ich auf Arbeitssuche in Hannover von einen Aufreißer der Kolonne angesprochen wurde. Aufreißer, so nennen sich die Leute, die Nachwuchs suchen. Sieben Jahre kam ich bei einer Drücker-Kolonne unter, dann hatte ich keinen Bock mehr auf dieses von Lügen, Gewalt und Angst geprägte Klima. Es folgten fast zehn Jahre, in denen ich mich abstrampelte, um auf ehrliche Weise in einem seriösen Umfeld Geld zu verdienen.

Ich kaufte zusammen mit einem Bekannten eine Autowerkstatt. Allerdings hatte man mir beim Kauf verschwiegen, dass das Gebäude kurze Zeit später abgerissen werden sollte. Dieselben Leute, die uns die Werkstatt verkauft hatten, brachen kurz nach der Eröffnung bei uns ein und klauten alle neuen Werkzeuge. Der Versicherungsschutz war noch nicht gültig, und ich war wieder am Boden.

Ich war pleite, arbeitslos, hatte null Antrieb - und verfiel für kurze Zeit in Selbstmitleid. Das ist eigentlich untypisch für mich. Ich bin ein Stehaufmännchen und klettere, wenn ich falle, immer wieder die Treppe hoch. Disziplin und Pünktlichkeit wurden mir eingeprügelt. Das prägt mich bis heute und ist sicher ein wenig krankhaft, weil ich schon Panik bekomme, wenn ich nur eine Minute zu spät zu Terminen auftauche.

Jedenfalls lud mich zu dieser Zeit ein Freund auf einen Urlaub nach Kolumbien ein. Das Land gefiel mir so gut, dass ich darüber nachdachte, mir dort eine Existenz aufzubauen. Ich wollte endlich einmal Geld haben. Doch wie dort leben? Beim zweiten Besuch brachte mich mein Freund in Kontakt mit Leuten vom Cali-Kartell. Bevor es zur Zusammenarbeit kam, wurde ich durchleuchtet und auf meine Zuverlässigkeit überprüft.

Ein Dokument seiner Reisen als Drogendealer (Foto: Volkert Ruhe)

Dann der erste Schmuggel. Zehn Kilo Koks, versteckt in einem Koffer, in Blitzgeräten für Fotoapparate. Die Ware war damals insgesamt rund 600 000 Dollar wert, zwei Kilo durfte ich selbst behalten, zusätzlich bekam ich 20 000 Dollar Transporthonorar. Plötzlich hatte ich Zweifel: Sollte ich das wirklich tun? Lief ich nicht Gefahr, in einem südamerikanischen Knast zu enden? Ich überlegte, den Koffer stehen zu lassen, doch ich fürchtete, dass die Leute vom Kartell mir dann eine Kugel in den Kopf jagen würden.

Mehrfach erlebte ich brenzlige Situationen. Einmal hatte ich eine Pistole am Kopf, als einer meiner Leute mit einem Koffer voller Koks verschwand. Ich wusste, dass ich tot bin, wenn ich die falsche Antwort gebe. Sie ließen mich leben - unter der Auflage, den Schaden wiedergutzumachen. Das bedeutete, dass ich die kommenden drei, vier Transporte umsonst machen musste. Erst da wurde mir bewusst, in was für einer Scheiße ich steckte.

Tatsächlich war ich ständig unter Beobachtung. Dreieinhalb Jahre organisierte ich die Kuriere für den deutschen Markt. Selbst durchgeführt habe ich den Transport nur einmal. Ich war nervlich nicht dafür gemacht und besorgte mir Leute, die den Transport nach Europa übernahmen. Das waren Menschen, die oft selbst in einer finanziellen Notlage waren. Wenn ich darüber heute nachdenke, wird mir klar, wie schäbig das war.

Damals aber lebte ich ein gutes Leben. Ich hatte eine kolumbianische Freundin, Eliza. Ich liebte sie, wollte eine Familie mit ihr gründen. Sie wusste nichts von meiner Tätigkeit - ich hatte immer behauptet, Werkstätten in Deutschland zu besitzen. Niemand bohrte da groß nach. Auch Eliza nicht, die immer davon ausging, dass ich als Deutscher in Kolumbien ohnehin vermögend sein müsse.

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Protokoll: Lars Langenau

Als ich verhaftet wurde, war sie dabei. Meine Lüge war aufgeflogen. Ich schämte mich in Grund und Boden. In dem Jahr nach der Verhaftung brach ich den Kontakt zu Eliza ab, weil ich sie schützen wollte. Die meisten Frauen wären wohl spätestens da weg gewesen, doch Eliza ist eine treue Seele. Sie schrieb mir all die Jahre und versüßte mir so das Leben hinter Gittern. Heute ist sie meine Ehefrau und wir haben einen gemeinsamen Sohn.

In Kolumbien hatte ich mich sicher gefühlt, da kein Auslieferungsabkommen mit Deutschland bestand. Doch zwei meiner Leute flogen auf und sagten als Kronzeugen gegen mich aus. Interpol stellte einen internationalen Haftbefehl aus, bei einem Kurzausflug nach Panama schlugen die Ermittler dort zu. In Folge meiner Verhaftung wurden noch etwa 15 weitere Personen festgenommen, einige wurden in den USA zu langen Haftstrafen verurteilt. Die Größe des gesamten Netzwerkes aber kann ich nicht abschätzen, weil ich in der mittleren Führungsebene mit den Bossen des Cali-Kartells nie in Berührung kam.

Zu der Zeit hatte ich kein schlechtes Gewissen wegen der Drogen. Ich selbst hatte bis auf ein paar Züge an einem Joint keinerlei Erfahrung damit. Koks war für mich etwas, dass sich Yuppies in die Nase zogen, um Party zu machen, sonst nichts. Was diese Drogen mit den Menschen machen, was mit dem Zeug auf dem Weg von Südamerika nach Deutschland passiert, wie viele Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden und an ihrer Abhängigkeit zugrunde gehen - all das wurde mir erst viel später bewusst. Bis dahin wollte ich einfach nicht über die Auswirkungen nachdenken.

Ich war 40, als ich verhaftet und von Panama nach Deutschland ausgeliefert wurde. Ich erwartete eine relativ glimpfliche Strafe in Höhe von sechs bis acht Jahren. Als der Richter dann das Urteil - 13 Jahre Haft ohne Bewährung - verkündete, war mein erster Gedanke: zurück in die Zelle und das Bettlaken zum Strick binden. Die Verzweiflung verging, doch lange herrschte in mir nur Ohnmacht. Ich kam ins berühmt-berüchtigte Hochsicherheitsgefängnis in Hamburg-Fuhlsbüttel . Und fragte mich, ob ich hier je wieder heil rauskommen würde. Oder ob ich krank oder abgestochen werden würde.

Mein Kopf gaukelte mir vor, dass ich gesundheitliche Beschwerden hatte. Die Psyche spielte verrückt. Wenn man nicht stabil ist, geht man im Knast zu Grunde. Die ersten Wochen sind die entscheidenden: Ich lebte von einem Tag auf den nächsten, eine andere Möglichkeit, unter den Psychopathen und Gewaltverbrechern in Santa Fu zu bestehen, gibt es nicht. Erst wenn man länger inhaftiert ist, die Strukturen durchschaut und nicht mehr an jeder Ecke Schwierigkeiten bekommt, fängt man an, wieder in die Zukunft zu schauen.

Das Gefängnis hat mich nicht zum schlechten Menschen gemacht, sondern brachte die guten Seiten in mir zum Vorschein. Von der Subkultur im Knast habe ich mich ferngehalten. Ich habe mir die Menschen, mit denen ich Umgang hatte, ganz genau angeschaut.So driftete ich nicht ab. Zudem erweiterte ich mein Wissen, habe jeden Tag gelernt, viele Bücher gelesen, die Zeit für sinnvolle Dinge genutzt. Später wurde ich zum Gefangenensprecher gewählt und übernahm weitere Zusatzaufgaben, um nicht ständig ins Grübeln zu kommen.

Ich machte einen Schulabschluss und ein Fernstudium. Eines Tages stieß ich auf einen Zeitungsartikel über ein Projekt in den USA, bei dem jugendliche Straftäter zu einem eintägigen Knastbesuch verdonnert wurden. Von dieser Art Schocktherapie hielt ich nichts, doch entstand dabei die Idee, dass Jugendliche freiwillig in den Knast kommen und zum Nachdenken angeregt werden. Gegen viele Widerstände, aber mit dem Segen der Gefängnisleitung, entwickelte ich die Idee mit einigen Mitstreitern zum Projekt.

Als dann im Mai 1999 zum ersten Mal eine Gruppe Jugendlicher erschien, hatte ich erstmals in meinem Leben das Gefühl, gebraucht zu werden - ein verdammt gutes Gefühl. Da saßen mir plötzlich Menschen gegenüber, die mich nicht als Verbrecher sahen, sondern als jemand, der ihnen helfen konnte.

Ich habe von 13 knapp acht Jahre verbüßt und stand dann fünf Jahre unter Bewährungsauflagen. 2001 wurde ich Freigänger, gründete den Verein "Gefangene helfen Jugendlichen" und beziehe seither sogar ein Gehalt: 1700 Euro brutto im Monat. Inzwischen bekommt der Verein Zulauf über zahlreiche Behörden, etwa 40 freie Träger sowie rund 100 Schulen. Bekannt sind wir bislang vor allem in Norddeutschland.

Manche der Jugendlichen sind schon einmal mit Polizei und Justiz in Berührung geraten, da geht es dann um Unterstützung bei der Resozialisierung. Bei anderen hat das Projekt rein präventiven Charakter. Es kommen nie ganze Schulklassen in die JVA, sondern nur speziell ausgewählte Jugendliche, maximal zwölf. Oder aber wir besuchen die Schulen.

Volkert Ruhe vor Jugendlichen (Foto: Volkert Ruhe)

Inzwischen hat unsere Initiative viele Preise bekommen und wurde sogar von Angela Merkel geehrt. Der Erfolg beruht meines Erachtens auf Kontinuität, persönlicher Überzeugung und den positiven Rückmeldungen der jugendlichen Teilnehmer. Klar gibt es da auch Leute, die wir nicht erreichen. Aber ich lasse mich davon nicht runterziehen, sondern setze auf die, denen wir helfen konnten.

Vor einiger Zeit habe ich am Hauptbahnhof von Hannover einen ziemlich verlotterten jungen Mann gesehen. Ich sprach ihn an und gab ihm meine Visitenkarte. Er hat sich nie gemeldet. Dennoch berührte mich diese flüchtige Begegnung, denn der Typ erinnerte mich an jemanden.

Ich kramte in meinen alten Gerichtsakten und holte Fotos von mir hervor. Da verstand ich plötzlich, warum ich mich um all die Jugendlichen und ihr tristes Leben kümmere. Es geht dabei nicht zuletzt auch um die Verarbeitung meines eigenen Lebens. "

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Volkert Ruhe hat gerade ein Buch über sein Leben veröffentlicht: Hinterm Stacheldraht geht's weiter. Vom Berufsverbrecher zum gefeierten Sozialunternehmer.

Das Projekt im Netz: https://www.gefangene-helfen-jugendlichen.de/

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