Manchmal regnet es Hunde und Katzen, zumindest in Großbritannien. In Spanien sind es bei besonders ungünstiger Großwetterlage Kröten und Schlangen, in Brasilien Schlangen und Eidechsen. In dem kleinen indischen Bergdorf Jatinga im Süden des Bundesstaats Assam allerdings regnet es einmal im Jahr Vögel. Das geschieht passenderweise immer während der Monsun-Saison zwischen August und Oktober und ist in diesem Fall kein geflügeltes Wort. Es fällt tatsächlich Federvieh vom Himmel. Anders als bei herkömmlichem Regen kann man sogar die Uhr nach den Vogelschauern stellen - sie treten immer zwischen 18 und 21 Uhr auf, vor allem vor mondlosen Nächten und bei Nebel. Ganze Schwärme prasseln desorientiert auf das 2500-Seelen-Dorf hinab. Wobei noch zu untersuchen wäre, ob sie sich stürzen oder fallen, also Selbstmordattentäter oder Unglücksraben sind.
"Die Vögel" wirkt beinahe wie eine Verfilmung des indischen Phänomens
Nun beginnen ja die unheimlichsten Gruselgeschichten in einer pechschwarzen, mondlosen Nacht. Dann rotten sich Fledermausschwärme, Werwolfrudel und allerlei anderes nachtaktives Getier zusammen und lauern nichtsahnenden Opfern auf. Die Vögel von Jatinga wären also prädestiniert für einen Tierhorrorfilm oder Psychothriller im Stile von Alfred Hitchcock. Dessen Klassiker "Die Vögel" wirkt beinahe wie eine Verfilmung des indischen Phänomens und lässt ähnlich viel Spielraum für Interpretation: Die bösartigen Vogelangriffe im Film lassen sich je nach Lesart beispielsweise als Rache der Natur am zerstörerischen Menschen oder als Verkörperung der ödipalen Beziehung zwischen männlicher Hauptfigur und seiner Mutter lesen.
Tatsächlich ranken sich um die Vögel von Jatinga auch Schauermärchen, die ihren Ursprung in den Mythen der hier angesiedelten indigenen Völker haben: Im 18. Jahrhundert glaubten die Stammesangehörigen der Naga, böse Geister lauerten ihnen in Form der Tiere auf, zur Strafe, weil sie das Land besiedelt hatten. Die Menschen verließen das Gebiet, um dem Zorn und der Rache dieser Geister zu entgehen. Die Naga verkauften ihr Land an den Stamm der Jaintia, die in dieser Beziehung weniger zimperlich schienen und 1905 neu siedelten. Sie schlugen die weiterhin im Herbst herabtaumelnden Vögel kurzerhand mit Bambusstöcken vom Himmel - eine von Gott gesandte Gabe und Nahrungsquelle. Ab da setzte sich auch der Begriff des "Jatinga-Vogelsuizids" durch, und die Tiere wurden dafür gepriesen, dass sie sich für die Bevölkerung im Selbstmord opferten. Aus einem lokalen Aberglauben wurde Folklore.
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Als solche könnte dieses Phänomen weiterhin für sich stehen und diese bizarre jährliche Vogeljagd als unkonventioneller Brauchtum betrachtet werden. Doch es gibt auch einen Helden in dieser Geschichte: Der Zoologe und Tierschützer Anwaruddin Choudhury stammt selbst aus Assam und ist einer der produktivsten und erfolgreichsten Ornithologen Indiens. Er schloss in den 90er- und 2000er-Jahren mit seinen umfassenden Systematiken zur Fauna Assams wichtige Forschungslücken in Indien, was ihm den Spitznamen "Birdman of Assam" einbrachte. Sein Band "Die Vögel von Assam" gilt als Standardwerk der Vogelkunde - und beschäftigt sich auch mit den Vogelsuiziden. Nachdem der Ornithologe E. P. Gee das Phänomen bereits in den 60er-Jahren in seinem Buch "Wildlife of India" beschrieben hatte, wurde Choudhury in den 70er-Jahren darauf aufmerksam und reiste regelmäßig in die Gegend. Die Bewohner erzählten ihm, sie hätten Geister gesehen. Choudhury, durch und durch Wissenschaftler, suchte nach Erklärungsansätzen: Wieso taumelten bei einer bestimmten Wetterlage Hunderte Vögel vom Himmel, und zwar genau über Jatinga? Insgesamt sind 44 heimische Vogelarten bekannt, die davon Jahr für Jahr betroffen sind.
Die Tiere begehen keinen Massensuizid
Choudhury fand schließlich eine Erklärung. Jatinga liegt in den Bergen von Assam in einem Tal auf etwa 600 Metern Höhe. Die umliegenden Gipfel erreichen mehr als 1500 Meter, weshalb es hier regelmäßig zu Fallwinden kommt. Während des Monsuns bildet sich bei Südwind ein Wind- und Nebeltrichter, der direkt auf das Dorf gerichtet ist. In den sagenumwobenen mondlosen Nächten verlieren die Vögel im Luftsog bei Nebel schlichtweg die Orientierung und suchen nach Bezugspunkten für ihre Navigation. Hier kommt dann der Ort Jatinga ins Spiel, besser gesagt dessen Lichtquellen - früher Fackeln, heute Straßenlaternen. Die Vögel fliegen in ihrer Desorientierung blind auf das Licht zu und können kaum noch kontrolliert abbremsen, sobald sie im Ort angekommen sind. Nach einem Crash sind sie natürlich doppelt leichte Beute für die Jäger. Choudhury betont deshalb immer wieder, dass die Vögel keinen Massensuizid begehen, sondern einfach dem Wetter zum Opfer fallen.
Damit die Tiere dem sicheren Tod entgehen können, hat Choudhury seine Untersuchungsergebnisse mit der Bevölkerung geteilt, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie keine schicksalhafte Gottesbotschaft sind. Die Todesrate ist seit den 90er-Jahren tatsächlich auch gesunken, weil weniger Jagd auf die verunglückten Vögel gemacht wird. Zudem ging die Anzahl der tierischen Bruchpiloten in den vergangenen Jahren immer weiter zurück.. Seien früher mehrere Hundert Vögel am Tag abgestürzt, sähen die Bewohner heute vielleicht ein oder zwei auf die Stadt zufliegen, erklärt Choudhury. Das liege aber durchaus auch daran, dass die heimische Population etwas zurückgeht. Das sich immer weiter modernisierende Dorf verdrängt das Habitat der Tiere, weshalb diese ausweichen müssen. Die Ehre der Vögel konnte Choudhury also wiederherstellen, an ihrem Schutz wird er jedoch weiterhin arbeiten müssen.