Süddeutsche Zeitung

Vitamin-Bomben:"Kinder brauchen keine Pillen"

Wie in den USA bekommen deutsche Kinder immer mehr Vitaminpräparate zu schlucken. Experten warnen eindringlich davor.

Christina Berndt

Die meisten Kinder brauchen keine Vitaminpillen. Und doch bekommt in den USA inzwischen jedes dritte Kind zwischen zwei und 17 Jahren Nahrungsergänzungsmittel von seinen Eltern. Viele Amerikaner nutzen Vitamine und Mineralstoffe ungeachtet der Tatsache, dass diese Produkte für Kinder und Erwachsene, die sich vernünftig ernähren, völlig unnötig sind, beklagen Ärzte von der University of California in der Fachzeitschrift Archives of Pediatrics & Adolescent Medicine.

"Multivitamin-Präparate für ältere Kinder können auch Nebenwirkungen hervorrufen - von Übelkeit über Erbrechen bis zu Unterleibsschmerzen, Leberschäden und Nervenschmerzen", so die Ärzte um den Pädiater Ulfat Shaikh, die die Daten von fast 11.000 Kindern ausgewertet haben. "Absurderweise bekommen gerade die Kinder, die sich ohnehin gut ernähren und viel bewegen, am ehesten Supplemente", schreiben die Ärzte.

Gesunde Kinder brauchen keine Tabletten

Auch in Deutschland nimmt der Trend zu Vitaminpillen und mit Kalzium, Eisen und Vitaminen aufgepeppten Lebensmitteln zu. Ernährungsexperten sehen das kritisch. "Wenn man sich ausgewogen ernährt, bekommt man alles, was man braucht", sagt Mathilde Kersting vom Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund. "Ein gesundes und gut ernährtes Kind braucht keine Tabletten."

In Deutschland gebe es nur vier Problembereiche. Die heißen Jod, Fluor, Folsäure und Vitamin D. "Auch mit einer optimalen Ernährung werden nicht genügend Jod, Fluor und Folsäure zugeführt", sagt Kersting. Sie empfiehlt Familien daher die Verwendung von Speisesalz, das diese drei Stoffe enthält.

Allen Eltern wird zudem geraten, ihren Babys täglich Vitamin D und Fluorid zu verabreichen. Ältere Kinder sollten dann Milch, Fisch und Eigelb bekommen, um die Vitamin-D-Versorgung zu sichern. "Auch sollten sich die Kinder viel im Freien aufhalten, damit die Haut selbst Vitamin D herstellen kann", so Kersting.

Da die Lebensmittelindustrie Zusätze von Vitaminen, Kalzium und Eisen in allerlei Produkten verkaufsfördernd findet, kann es leicht zur Überversorgung kommen. "Wenn ein Kind angereicherte Cornflakes, einen angereicherten Joghurt und noch eine Vitaminpille bekommt, werden die Grenzwerte überschritten", sagt Kersting.

Niemand wisse genau, was das für die Gesundheit bedeute. Sie mahnt aber zur Vorsicht, da sich zunehmend negative Folgen von Vitaminen herausstellen. Zuletzt ergab eine große Analyse des Cochrane-Zentrums Kopenhagen, dass Vitamine mehr schaden als nützen. Sie können sogar das Leben verkürzen. "Ohne mit dem Kinderarzt zu sprechen", sagt Kersting, "sollte niemand seinem Kind Tabletten geben."

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SZ vom 04.02.2009/bilu/mmk
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