Verhaltensauffällige Kinder:Wenn Eltern Tyrannen erschaffen

Buch über Tyrannenkinder

Beklagt zunehmenden Narzissmus bei Kindern und Eltern: die österreichische Jugendpsychologin und Ärztin Martina Leibovici-Mühlberger.

(Foto: Matthieu Munoz/oh)

Sie verweigern schulische Leistung, leiden unter Wutanfällen oder lassen sich alles nachtragen: Immer mehr Kinder sind verhaltensauffällig, beklagt eine Jugendpsychologin in ihrem neuen Buch.

Von Ruth Schneeberger

Als Mutter von vier Kindern, Ärztin, Psychotherapeutin und Jugendpsychologin hat Martina Leibovici-Mühlberger aus Wien viel mit der jungen Generation zu tun. In ihrem neuen Buch "Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden - Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können" (edition a) entwirft die Autorin ein dramatisches Bild: Die heutigen Kinder seien nicht in der Lage, als Erwachsene die kommenden globalen Probleme zu lösen. Weil Eltern sich aus narzisstischen Gründen mit ihnen lieber verkumpeln als Grenzen zu setzen, drehten sich die Kinder nur noch um sich selbst - und würden selbst Narzissten. Im Interview erklärt die Psychologin, warum sie sich solche Sorgen macht.

SZ: Ihr Buch klingt wie ein Hilferuf.

Martina Leibovici-Mühlberger: So ist es auch gemeint. Als Hilferuf der Kinder, den ich an die Erwachsenen weitergebe. All diese Verhaltensauffälligkeiten, das tyrannische Auftreten, das viele Kinder heute an den Tag legen - es sind eigentlich Bitten um bessere Bedingungen während des Aufwachsens für ein erfolgreiches Leben: Wir sollen eine leistungsstarke Generation werden, dann macht uns auch zu einer. Und nicht zu einer, die nur konsumiert.

Warum merken das Kinder schneller als ihre Eltern?

Weil Kinder näher an ihrer Natur sind und noch unmittelbarer im Erleben stecken. Viele Eltern entwickeln komplexe Erziehungskonzepte, die sie auch für sich logisch begründen können. Aber die Kinder werden damit im wahrsten Sinne des Wortes in ihrer Entwicklung gestört.

Viele glauben heute, dass sie ihren Kindern alles bieten müssen. Sie fühlen sich unter großem Druck. Und freie Entfaltung des Individuums klingt auch sehr charmant. Nur muss man damit umgehen und Grenzen setzen können, wo sie nötig sind. Wenn Kinder keine Grenzen kennen, kann sich die Konzentration nicht richtig ausbilden, sie können ihre Impulse nicht kontrollieren und nicht beharrlich an einer Sache dran bleiben. Sie kommen nicht damit klar, wenn sie sich mal selbst beschränken oder ihre Bedürfnisse verschieben müssen. Sie können kaum gesunde Beziehungen entwickeln und sich in einer Gemeinschaft zurechtfinden. Diese Kompetenzen brauchen sie aber in Schule und Beruf, da wartet ein beinharter Konkurrenzkampf auf sie. Deshalb nenne ich das ganze eine Erziehungslüge.

Dramatisieren Sie nicht ein bisschen?

Ich will nicht alle pathologisieren. Nicht alle Kinder sind psychiatrisch auffällig und psychisch krank. Das sind zehn bis 20 Prozent, und dieser Wert ist seit langem relativ stabil. Aber die Anzahl der in ihrer Entwicklung gestörten Kinder nimmt dramatisch zu. Dafür gibt es wenig Bewusstsein und es wird vieles falsch interpretiert. Das tyrannische Kind wird oft als kreatives Kind gesehen - solange ich nicht mit ihm zu tun haben muss.

Gibt es dazu aktuelle Zahlen?

Pädagogen sagen mir: Vor 30 Jahren hatte ich Klassen mit vielleicht drei oder vier auffälligen Kindern. Heute muss man froh sein, wenn in einer Klasse drei oder vier nicht auffällig sind und keine großen Probleme im familiären Hintergrund zu bewältigen sind. Worum ich mir Sorgen mache, sind die Konsequenzen für die Kinder und für die ganze Gesellschaft.

Eine davon ist laut ihrem Buch, dass sich die Kinder als Erwachsene von den Eltern abwenden. Sind junge Erwachsene heutzutage nicht eher unselbständig?

Genau das ist ja das Problem. Die Eltern geben so lange alles für ihre Kinder, bis sie nicht mehr können. Wenn sie dann in Rente gehen und ihrem 23-jährigen Sohn sagen, jetzt musst du auf eigenen Beinen stehen, fällt der ins Bodenlose. Er empfindet das wirklich als Gemeinheit seiner Eltern.

Weil sie ihm vorher nie Grenzen aufgezeigt haben?

Ja, aber jetzt, wo er erwachsen ist, tun sie es plötzlich. Das hat er nie gelernt und kann damit nicht umgehen. Psychologen sprechen auch von Jo-Jo-Erwachsenen, die nur bedingt erwachsen sind. Sie sind unabhängig und selbstverwaltend, wo es um Freiheit geht. Wenn es aber um Struktur und Selbsterhaltung geht, sind sie weiter von ihren Eltern abhängig. Weil das nicht mehr chillig ist, sondern anstrengend. Wenn Eltern dann Grenzen setzen, kann eine massive Frustration einsetzen, weil die Disneyland-Welt, in der die Kinder großgeworden sind, mit der Realität kollidiert. Dann wenden sich viele beleidigt von den Eltern ab.

So dass sie auch etwa für die Pflege ihrer Eltern nicht mehr zur Verfügung stehen und unser Gesundheitssystem implodiert.

Es wird uns jetzt bewusst, dass diese Erziehungsmethode nicht aufgeht. Meine Generation war die letzte, in der noch eine Selbstverständlichkeit geherrscht hat, dass man sich um die Eltern kümmert. Die heute 35-Jährigen haben das nicht mehr. Sie erleben das als eine Zumutung.

Auf der anderen Seite gibt es auch viel mehr Scheidungskinder. 1962 lag die Scheidungsquote noch um die zehn Prozent, das war ein marginales Phänomen. 2005 hatten wir eine Scheidungsquote von 50 Prozent. Heute werden 34 Prozent der Kinder unehelich geboren. Logischerweise führt das zu neuen Umständen. Wenn ich den Vater als vorbeieilenden Kometen erlebe, den ich seit meinem fünften Lebensjahr nur alle paar Jahre sehe, habe ich wenig Lust, den alten Herren jetzt zu pflegen. Oder auch nur im Altersheim zu besuchen.

Die Kinder sind nicht schuld, die Eltern auch nur teilweise

Sie sagen: Nicht nur die Eltern sind schuld. Und erst recht nicht die Kinder.

Ich werde manchmal gefragt: Hassen Sie Kinder? Im Gegenteil! Ich mache mir Sorgen um sie. Ich will niemanden schlechtmachen, mir geht es um die Wendung zum Besseren. Aus Profitgier, Unverstand, Verführtheit, manchmal Naivität von Eltern und Unterdrucksein auch der Erziehungsanstalten sind wir in eine Schieflage geraten. Ich sage: Seht her, die Kinder sagen uns das mit ihrem auffälligen Verhalten.

Wenn solche Kinder erwachsen werden, endet das aber nicht nur im Abwenden von den Eltern.

Genau. Manche wenden sich sogar aktiv von der Gesellschaft ab. Sie wollen keine Leistung bringen, oder nur so viel wie gerade nötig. Sie wollen keine Steuern zahlen, sondern ihr Leben jetzt genießen. Gerade so wenig arbeiten, dass sie noch Transferleistungen bekommen. Aber die Verkehrsinfrastruktur und die Müllabfuhr sollen bitteschön funktionieren, das ist nicht ihr Problem.

Andere suchen verzweifelt nach Führung, sind orientierungslos. Sie jobben, aber sie erarbeiten sich keinen Lebenslauf im Sinne einer Zielrichtung und sind auch für politische und religiöse Radikalisierung empfänglich. Denn da sagt ihnen endlich jemand, wo es langgeht und was richtig ist. Ein Zustand ohne Orientierung ist ja kein angenehmer. Deshalb bin ich auch wütend, mein Buch soll eine Streitschrift sein. Es ist klar, dass wir glücklicherweise auch andere Jugendliche haben. Aber wie viele müssen normal funktionieren, damit wir die anderen mittragen können, wann kippt das? Führt das nicht zu einer Verschärfung des sozialen Klimas, wenn Ressourcen knapper werden und demographische Entwicklungen uns ohnehin sorgen? Dass die Menschen heutzutage länger leben und somit auch länger gepflegt werden müssen, kostet enorm. Wer soll das leisten?

Was muss jetzt Ihrer Meinung nach passieren?

Wir müssen beherzt hinschauen. Und nicht klagen. Wenn wir sagen: Das gab es immer schon, dass die Alten sich über die Jungen beschwert haben, ist das ein Wegschauen. Ich muss aber auch kein Armageddon ausrufen. Wir müssen bitte hinschauen, wenn unsere Kinder massive Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Wenn eine Neunjährige immer wieder mit Wutanfällen wie irre auf dem Sofa rumspringt oder der dreijährige kleine Prinz schon drei Kindergartenwechsel hinter sich hat oder ein Zehnjähriger ständig im Elternbett schlafen muss. Wir müssen Verantwortung übernehmen und die Weichen stellen für ihre Zukunftsbereitschaft. Eltern müssen ihren Auftrag wieder annehmen und Führungsbereitschaft übernehmen. Mit ihrem Erfahrungsvorsprung müssen sie das Leben für ihr Kind altersgemäß vorstrukturieren und Grenzen setzen als Schutzraum. Und das ist bitte keine Rückkehr zum autoritären Erziehungsmodell.

Ich bin Experte für mein Kind, weil ich ihm in Liebe verbunden bin, und weiß, was ich einem 12-Jährigen zumuten kann. Das ist vielleicht etwas anderes, als eine andere Mutter ihrem 12-Jährigen zutraut. Aber bitte, liebe Eltern, lasst euch nicht von den Forderungen der materiell orientierten Konsumgesellschaft so unter Druck setzen. Ein Picknick im Freien ist viel günstiger als ein Kinobesuch mit der ganzen Familie und zudem viel kommunikativer. Macht diesen Überforderungszirkus nicht mit! Ich muss nicht sofort das nächste Musikinstrument kaufen, sobald der Junge ein paar Wochen nicht mehr mit dem alten spielt. Vertraut darauf, dass sich Talent von alleine zeigt - und dann fördert es, aber konsequent. Eltern müssen ihre Kinder nicht ständig bespaßen.

Sie sagen: Überforderte Eltern produzieren verwirrte Kinder.

Ja, deshalb sind auch die Schulen gefragt. Schule ist heute noch wichtiger, gerade die Ganztagsschule. Heute brauchen die meisten Familien mit Kindern zwei Verdiener, um nicht zu verarmen. Also hat Schule auch einen Betreuungs- und Erziehungsauftrag. Jetzt muss man diese Schulen aber auch bitte entsprechend ausrüsten.

Ich würde mir außerdem ein Kinderministerium wünschen. Das aus dem Blickwinkel des Kindes alle gesellschaftlichen Bereiche auf Verträglichkeit überprüft, angefangen bei modernen Medien über die Regalbewirtschaftung in Supermärkten bis zum Umgang mit dem Internet. Das wäre eine Erleichterung für viele Eltern.

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