Vergewaltigung:Als wäre nie etwas passiert

Lesezeit: 5 min

Man bestellte eine Fotografin ein, eine junge Frau, nur wenig älter als ich. Als sie mich sah, entblößt und entwürdigt, stammelte sie, das könne sie nicht und lief aus dem Raum. Ich hörte, wie der Kriminalhauptkommissar sie anherrschte, sie solle sich zusammenreißen. Mit zitternden Händen nahm sie die Bilder auf, die später den Geschworenen vor Gericht vorgelegt werden würden.

Die Ermittler beschlossen schnell, meinen Fall an die amerikanischen Streitkräfte zu übergeben, so wurde ich dorthin gebracht und die Vernehmungen begannen erneut. Wer ist dieser Mann, was können Sie zu ihm sagen, kennen Sie ihn, hat er vorher Kontakt zu ihnen aufgenommen. Ich sagte ihnen, dass er mir seine Telefonnummer gegeben hatte, früher am Abend, und mit einem Wink wurden Militärpolizisten ausgeschickt, danach zu suchen. Sie kamen zurück mit einem Bierdeckel, auf den der Mann seinen Namen und Telefonnummer geschrieben hatte, etwas durchgeweicht vom leichten Nieselregen, aber gut leserlich. 'Ist das der Mann', fragten sie. 'Ja', sagte ich. Ich las seinen Namen zum ersten Mal. Sofort bereitete man die Verhaftung vor.

Niemand kam auf die Idee, dass ich Hilfe brauchen könnte

Vor dem amerikanischen Militärgericht wurde er im Herbst desselben Jahres zu einer lebenslänglichen Haftstrafe wegen Entführung, dreifacher Vergewaltigung und versuchten Mordes einer Minderjährigen verurteilt - und sofort nach der Urteilsverkündung in einen Hochsicherheitstrakt verlegt. Noch bei der Anhörung hatte er gedroht, mich umzubringen, wenn er mich jemals wieder in die Hände bekommen würde.

Wie lebt man damit, wie überlebt man eine solche Erfahrung, wenn man nicht mehr ganz Kind ist, aber noch keine Frau? Wenn man noch gar nicht gefestigt ist, und wenn alle vor Grauen verstummen?

Es begann eine Zeit der Isolation, ich baute hohe Mauern auf, um mich zu schützen, aber auch um meine Wunden zu verbergen. Der Schulunterricht rauschte an mir vorbei. Während sich meine Mitschüler auf Klausuren vorbereiteten, wurde ich auf einen Prozess vorbereitet.

Die Vernehmungen setzten mir zu, bis ich nicht mehr konnte und die Dolmetscherin anrief. Ich wolle das alles nicht mehr. Sie rief mich zurück, um mir von dem amerikanischen Captain, der als Staatsanwalt die Anklage vorbereitete, auszurichten, ich möge bitte durchhalten. Er würde Tag und Nacht an dem Fall arbeiten und man würde mich zur Schonung künftig zu Hause vernehmen. Ich möge tapfer sein. Und ich war tapfer.

Ich hätte die elfte Klasse wiederholen müssen, aber ich hatte keine Kraft dazu. Niemand kam auf die Idee, dass ich Hilfe brauchen könnte. Schweigen war das Beste, da war sich meine Familie einig. Es wurde nie wieder erwähnt. Bis heute nicht. 'Schade, dass du nicht Jura studiert hast', sagte meine Mutter neulich, 'du wärst eine brillante Juristin geworden.' Ich lachte. Ja, sicher. Als wäre nie etwas passiert.

Die Angst war das Schlimmste

Die ersten zwei Jahre waren die schlimmsten, ich erinnere mich an sie als die düsteren Jahre, gequält von abrupten Erinnerungsschüben, Ängsten, Schlaflosigkeit und Depressionen. Die Angst war das Schlimmste, sie begleitete mich auf Schritt und Tritt.

In meiner Familie gab es keine Depression, keine Schwäche, und krank war man nur, wenn man nicht mehr auf den Beinen stehen konnte. Da es kein Mitleid gab, war auch kein Raum für Selbstmitleid. Und vielleicht ist es genau das fehlende Selbstmitleid, das mir half, zu überleben. Ich war ein Opfer, und wollte keines sein.

Nur wenige Menschen drangen überhaupt zu mir durch. Ich kämpfte um Normalität. Wie durch ein Wunder blieb meine Sexualität unbeeinträchtigt, das ist wohl eher selten. Vielleicht wollte ich mir das auch nicht nehmen lassen und so war es mir möglich, Beziehungen einzugehen, ohne mich offenbaren zu müssen. Doch die Nähe, die eine intime Beziehung mit sich bringt, war kaum auszuhalten und ist auch heute noch schwierig für mich.

Der Wendepunkt kam mit 30, als ich Blut in meinem Urin bemerkte. Ich suchte meinen Arzt auf, der eine übergangene Blasenzündung diagnostizierte, die zu einer Nierenbeckenentzündung geführt hatte. 'Sie müssen Schmerzen haben, im Nierenbereich', sagte er. 'Merken Sie das nicht?' Ich spürte es nicht. Er stand auf und legte seine kühle Hand auf meine Stirn. 'Sie haben Fieber.' Auch das hatte ich nicht wahrgenommen - und das erschreckte mich. Ich wusste, ich brauchte Hilfe und rief den Psychologen an, den mir eine Freundin empfohlen hatte.

Nun begann eine intensive therapeutische Arbeit. Ich lernte, mich selbst zu spüren, meine Bedürfnisse wahrzunehmen, überhaupt Hunger, Durst, Kälte, Hitze, Schmerz zu spüren und nach ihnen zu handeln, Emotionen einzuordnen und letztendlich Mauern niederzureißen. Das Trauma zu verarbeiten. Die Heilung hatte begonnen. Heute arbeite ich als Kundenbetreuerin in einem großen Unternehmen und empfinde das Leben als schön - von einfach war nie die Rede."

________________________________

Michaela E., 43, Hessen

Annalen des Alltags
Die Geschichte Ihres Lebens

Wann waren Sie ein Held? Gibt es einen neuralgischen Punkt, an dem Ihr Leben ganz anders wurde? Fast jeder trägt eine besondere Geschichte in sich - wir wollen Ihre erzählen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema