Süddeutsche Zeitung

Verdrängung:An Freud vorbei geforscht

Die Freudsche Verdrängungslehre galt als spekulativ. Nun sind führende Psychologen davon überzeugt, dass es experimentelle Beweise für die Verdrängung gibt.

Nikolas Westerhoff

Tod, Krankheit, Liebeskummer - das Leben ist gekennzeichnet von einer Vielzahl belastender Ereignisse, von denen einige "verdrängt" werden.

Doch viele biographische Geschehnisse lassen sich nicht restlos aus dem Gedächtnis verbannen, sondern führen ein Eigenleben im Unterbewussten. Von diesem Ort aus, so Sigmund Freuds Annahme, entfaltet die nur vermeintlich "vergessene Vergangenheit" ihre unheilvolle Wirkung und stört das psychische Wohlbefinden. Denn unwillkürlich holt einen das Verdrängte irgendwann ein - zum Schaden der Seele.

Die Freudsche Verdrängungslehre galt lange Zeit als spekulativ und wurde allenfalls von Psychoanalytikern propagiert. Doch das hat sich nun geändert: Einige führende Psychologen sind davon überzeugt, dass es experimentelle Beweise für die Verdrängung gibt.

Mit dieser Behauptung lösen sie eine Kontroverse um eine mehr als 100 Jahre alte Theorie aus, die Freud für den Grundpfeiler seiner Psychoanalyse hielt.

Die Fronten sind verhärtet: Während die einen von einer Renaissance der Verdrängungslehre sprechen, machen die anderen gegen ebendiese Lehre mobil. Aufseiten der Kritiker gibt es zwei Lager: jene, die meinen, man könne die Freudsche Theorie experimentell gar nicht beweisen. Und jene, die das gedankliche Gebilde "Verdrängung" für pure Fiktion halten.

Nur nicht an Schokolade denken

Der Psychologe Matthew Hugh Erdelyi von der City University of New York stellte vor einem Jahr in seiner programmatischen Schrift "The unified theory of repression" unmissverständlich fest: "Die Verdrängung ist ein Faktum" (Behavioral and Brain Sciences, Bd.29, S.499, 2006). Seiner Ansicht nach gibt es mittlerweile genügend Befunde, die das Freudsche Verdrängungskonzept untermauern.

Vor kurzem haben die Psychologen Richard Bryant und Fiona Taylor von der University of New South Wales eine Studie veröffentlicht, die das Freudsche Theoriegebilde gleichfalls zu stützen scheint (Behaviour Research and Therapy, Bd.45, S.163, 2007).

Die Forscher forderten 100 Probanden vor dem Schlafengehen auf, ein unangenehmes Ereignis zu schildern. Daraufhin sollten die Versuchspersonen fünf Minuten lang ein Gedankenprotokoll verfassen, also ungefiltert eigene Gefühle und Überlegungen zu Papier bringen. Die Hälfte der Probanden durfte schreiben, worüber sie wollte; die andere bekam die Auflage, beim Schreiben nicht an das zuvor genannte kritische Lebensereignis zu denken - sie sollten es "verdrängen".

Am nächsten Tag wurden die Versuchspersonen gebeten, ihre Träume aufzuzeichnen. Die These der Psychologen lautete: Wer sein Lebensereignis im Gedankenprotokoll verschweigen musste, den holt ebendieses Ereignis im Traum wieder ein. Das vermeintlich mit Freud kompatible Resultat: Jene Probanden, die von sich behaupteten, Negatives häufig zu "verdrängen", wurden im Schlaf besonders oft an die zuvor unterdrückten biographischen Episoden erinnert.

Vergleichbare Befunde hatte der Psychologe Daniel Wegner von der Harvard University bereits vor drei Jahren vorgelegt. Der Experimentalpsychologe bat seine Probanden vor der Nachtruhe, nicht an eine bestimmte Person zu denken oder den Gedanken an diese Person absichtlich zu unterdrücken. Die willentliche Zurückweisung solcher Gedanken, so Wegner, führte dazu, dass die Person im Traum vermehrt auftauchte.

Schmerzliches wegschieben

Diese Ergebnisse belegen auf den ersten Blick Freuds Verdrängungslehre. Doch Kritiker wie der Psychologe Richard McNally von der Harvard University wenden ein:

Einen Gedanken auf Kommando zu unterdrücken, habe nichts mit Verdrängung zu tun, wie Freud sie verstand. Verdrängung sei ein unbewusster Vorgang - also ein nicht willentlich gesteuertes Abblocken von hoch emotionalen, schambehafteten oder tabuisierten Inhalten.

In den Experimenten wird aber lediglich erfasst, ob vorsätzlich unterdrückte Gedanken wiederkehren. Es gehe somit nur um die Frage, ob Menschen ihre Gedanken per Willenskraft aus ihrem Bewusstsein entfernen können.

Der Vorsatz, nicht an eine Tafel Schokolade zu denken, sei eben kein Akt der Verdrängung, sondern Ausdruck eines mentalen Kontrollprozesses, der dazu dient, eigene Ziele zu verwirklichen. Wer eine Diät macht, will möglichst nicht an Süßigkeiten denken, damit der Plan vom Traumgewicht gelingt.

"Freud wird sicherlich nicht deshalb als gewagter und origineller Denker verehrt, weil er die Ansicht vertrat, dass Menschen manchmal versuchen, nicht an unerfreuliche Dinge zu denken", sagt McNally. Bisher sei keine experimentelle Methode bekannt, mit der es möglich wäre, das unbewusste Verdrängen von Gedanken oder Vorstellungen zu erfassen. In ihrer Not würden Psychologen deshalb, so McNally, eine Light-Version der Freudschen Verdrängung prüfen, nämlich die Gedankenunterdrückung ("supression").

Unbelegt ist auch die These Freuds, dass im Schlaf die Zensur durch das alles kontrollierende Über-Ich gelockert sei, weshalb Tabuisiertes im Traum wieder auftauchen würde.

Die Experimente des Psychologen Daniel Wegner zur Unterdrückung von Gedanken zeigen nämlich: Ob es gelingt, einen Gedanken abzuweisen, hängt nicht von seiner emotionalen Qualität ab. Sexuelles und Schamhaftes wird weder schneller noch häufiger zurückgedrängt als das Triviale und Alltägliche. Für die Kritiker ist klar: Ob der Mensch unbewusst verdrängt, lässt sich nicht experimentell prüfen.

Andere Forscher gehen noch einen Schritt weiter. Sie halten die Verdrängung für ein kulturelles Produkt ohne biopsychologische Basis. Eine Ansicht, die etwa der Psychiater Harrison Pope von der Harvard University teilt. Die Vorstellung, so Pope, wonach Menschen ihre als traumatisch erlebte Biographie verdrängen, gäbe es seit etwa 200 Jahren.

Vor dem 19. Jahrhundert würden sich weder wissenschaftliche noch literarische Schriftstücke finden, in denen das Phänomen der Verdrängung beschrieben worden wäre. Der Typus des Verdrängers sei folglich eine Erfindung der modernen Psychiatriegeschichte.

Tatsächlich gibt es für die Theorie der Verdrängung keine stichhaltigen Belege. So müsste Freud zufolge das Ausmaß des Vergessens bei jenen Menschen besonders groß sein, die Schlimmes erlebt haben und deshalb gewillt sind, das Erlebte aus ihrem Gedächtnis zu tilgen.

Das Gegenteil ist der Fall: Sogar jene Erwachsene, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden, können sich gedanklich nicht von den Inhalten lösen, die an das Trauma erinnern (Behaviour Research and Therapy, Bd.44, S.1129, 2006).

Das Problem ist nicht das Verdrängen, sondern das Nicht-Verdrängen-Können. So sind etwa Angst- und Zwangspatienten außerstande, blasphemische, aggressive oder aufsässige Gedanken beiseite zu schieben. Auch ist es nicht der "Verdränger", der Gefahr läuft, seelisch zu erkranken, sondern derjenige, dem es nicht gelingt, Krankheitsgedanken aus seinem Bewusstsein zu verscheuchen. Gesund ist demnach, wer negative Gedanken an Vergangenes oder an Schmerzliches wegzuschieben vermag und aktiv unterdrückt.

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Quelle:
SZ vom 4.9.2007
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