Verdrängte Schwangerschaft:"Kindsbewegungen als Bauchgrimmen"

Immer wieder tauchen Meldungen von Frauen auf, die von Wehen und Geburt überrascht werden. Mediziner nennen dieses Phänomen "Gravitas suppressalis" - verdrängte Schwangerschaft. Der Berliner Gynäkologe und Psychotherapeut Peter Rott erklärt, was dahintersteckt, wenn Frauen neun Monate lang nicht sehen, was doch offensichtlich ist.

Sabrina Ebitsch

Ist es wirklich möglich, dass Frauen erst im Kreißsaal von ihrer Schwangerschaft erfahren? In der vergangenen Woche berichtete die Boulevardpresse über "Überraschungsbaby Sabrina", das Mutter Sandra F., 21, und die sie behandelnden Ärzte angeblich noch während der Wehen an eine Zyste denken ließ. Bei Fällen wie diesem stellt sich die Frage, wie sich Indizien für eine Schwangerschaft - Übelkeit, ausbleibende Regel, strampelnder Fötus, kugelrunder Bauch - übersehen lassen. Der Berliner Gynäkologe und Psychotherapeut Peter Rott über verdrängte und verleugnete Schwangerschaften.

Schwangere Frau

Verdrängte Schwangerschaft - ein Phänomen, das in allen Gesellschaftsschichten vorkommt.

(Foto: picture alliance / dpa)

sueddeutsche.de: Jede Frau, die bereits schwanger war, und jeder Mann, der ihrem Bauch neun Monate lang beim Wachsen zugesehen hat, fragt sich: Wie kann es sein, dass man eine Schwangerschaft nicht bemerkt?

Peter Rott: Hinter diesem Verhalten steckt meist eine Angststörung. Wenn wir es plakativ machen wollen: In Horrorfilmen ist oft das Motiv zu finden, dass irgendwelche Monster in Menschen wachsen und dann aus ihnen hervorbrechen. Nüchtern betrachtet ist Schwangersein für die Betroffenen damit vergleichbar: Etwas Fremdes wächst in einem, das das eigene Leben völlig verändern wird. Gleichzeitig wird diese Tatsache in der Regel als etwas Positives erlebt - bis dahin müssen also enorme körperliche, kognitive und soziale Anpassungsleistungen erbracht werden. Und wenn das nicht funktioniert, besteht die Gefahr, dass Frauen ihre Schwangerschaft verdrängen oder verleugnen.

sueddeutsche.de: Wie häufig sind solche Fälle?

Rott: Ich habe als Oberarzt im Krankenhaus selbst zu diesem Thema geforscht. Die Zahlen aus verschiedenen Studien decken sich weitgehend: Man kann davon ausgehen, dass auf 500 Schwangerschaften eine unbemerkte kommt - das heißt eine, die erst nach der 20. Woche und damit nach der Hälfte der Dauer einer Schwangerschaft festgestellt wird. Dazu gehören auch Frauen, die ihren Zustand erst unter der Geburt bemerken. Dieser Wert ist gar nicht so niedrig, sondern liegt deutlich höher als beispielsweise Drillingsgeburten, die einmal pro 7200 Geburten vorkommen.

sueddeutsche.de: Welche Frauen sind davon betroffen?

Rott: Fälle von unbemerkten Schwangerschaften gibt es in allen Gesellschaftsschichten. Man kann nicht sagen, dass weniger gebildete oder nervenkranke Frauen besonders gefährdet seien. Ein etwas höheres Risiko gibt es allerdings bei jungen Frauen unter 20 und älteren über 40 - weil hier eine Schwangerschaft kaum erwartet wird und deswegen auch der innere Konflikt größer ist.

sueddeutsche.de: Haben Sie Fälle in Ihrer eigenen Praxis erlebt?

Rott: Unsere Praxis ist direkt an ein Klinikgelände angeschlossen. In den elf Jahren seit Praxisgründung sind drei Frauen mit massiven Unterleibsschmerzen aus der Klinik zu uns gebracht worden, nachdem der Chirurg bei der Ultraschalluntersuchung festgestellt hat: Oh, die ist ja schwanger! Die Frauen waren mitten in der Geburt, ihre Unterleibsschmerzen waren Wehen.

sueddeutsche.de: Wie haben die Frauen reagiert, als Sie sie aufgeklärt haben?

Rott: Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich: Eine meinte, das hätte sie sich schon fast gedacht. Die andere war völlig überrascht. Der mussten wir erst einmal klarmachen, dass sie jetzt Mutter wird.

sueddeutsche.de: Wie können Frauen das nicht bemerken - spätestens vom sechsten Monat an ist doch normalerweise der Bauch nicht mehr zu übersehen?

Rott: Zwei Frauen, die ich behandelt habe, waren relativ dick, da fiel der Bauch nicht so sehr auf. Und dann kommt hinzu, dass die Kinder bei solchen Schwangerschaften oft sehr klein sind, weil die Frauen, da sie ja nicht wissen, dass sie schwanger sind, rauchen, sich nicht ausreichend schonen oder sich schlecht ernähren - manche machen sogar Diäten, weil sie durch die Schwangerschaft zugenommen haben. Es gibt einen Fall von einer jungen Frau, die noch kurz vor der Geburt auf einem Schulausflug mit ihren Klassenkameraden baden war, ohne dass jemand die Schwangerschaft bemerkt hätte.

sueddeutsche.de: Was ist mit anderen Anzeichen wie ausbleibender Periode oder Übelkeit?

Rott: Zunächst einmal ist nicht allen Frauen übel. Und wenn, dann lässt sich das sehr leicht mit einem Magen-Darm-Virus, der gerade umgeht, erklären. Die ausbleibende Blutung kann man mit schlechter Ernährung oder viel Sport begründen. Außerdem berichten viele Frauen, dass sie weiterhin Blutungen während der Schwangerschaft hatten - es kann sein, dass hier die Psyche den Körper beeinflusst.

sueddeutsche.de: Je größer das Kind wird, desto deutlicher spürbar sind auch seine Bewegungen - wie kann man das ignorieren?

Rott: Kindsbewegungen werden häufig als Bauchgrimmen oder Darmbewegungen umgedeutet. Es gibt genug Möglichkeiten, sich solche Dinge schönzureden. Es finden Rationalisierungsprozesse statt: Die Frau deutet ihre körperlichen Veränderungen um, um einem inneren Konflikt aus dem Weg zu gehen.

sueddeutsche.de: Was genau geht in der Frau vor?

Rott: Es setzen psychische Abwehrmechanismen ein, wie sie jeder auch aus anderen Situationen kennt: Wir begegnen etwas Furchtbarem und verdrängen es, um uns vor schmerzlichen Empfindungen zu schützen.

sueddeutsche.de: Was können die Hintergründe dafür sein?

Rott: Hinter verdrängten Schwangerschaften steckt ein großer innerer Konflikt. Die Frau befindet sich beispielsweise in einer akuten Trennungsphase: Die Beziehung geht zu Ende, aber durch die Schwangerschaft bliebe sie an den Partner gebunden. Oder in der Familie wird sehr rigide mit Sexualität umgegangen und die Frau befürchtet Schwierigkeiten, weil die Schwangerschaft Ausdruck gelebter Sexualität ist. Bei jüngeren Frauen können auch Autonomiebestrebungen eine Rolle spielen: Sie wollen nicht vom Partner, vom Sozialamt, von den Eltern abhängig sein, was mit einem Kind jedoch der Fall wäre.

sueddeutsche.de: Die Frauen wehren sich also mit aller Macht gegen die Tatsache, dass sie ein Kind bekommen?

Rott: Ja, wobei es auch andersherum sein kann, wenn etwa die Verleugnung der Schwangerschaft vor einer Abtreibung schützt. Das kann bei Frauen vorkommen, die aus beruflichen oder persönlichen Gründen vielleicht glauben abtreiben zu müssen, obwohl sie das gar nicht wollen. Wenn sie also erst spät realisieren, dass sie schwanger sind, ist es auch für eine Abtreibung zu spät.

sueddeutsche.de: Ignorieren die Frauen ihre Schwangerschaft oder ist sie ihnen tatsächlich nicht bewusst?

Rott: Wir unterscheiden die verdrängte und die verleugnete oder negierte Schwangerschaft. Bei der Verleugnung sind die dahinterliegenden Konflikte nicht so stark, die erlebte Bedrohung nicht ganz so groß. Diese Frauen wissen im Grunde von ihrer Schwangerschaft, gestehen sie sich aber nicht ein - wie die Frau aus unserer Praxis, die dann sagte: Das habe ich mir schon fast gedacht. Bei der Verdrängung ist der mit der Schwangerschaft verbundene Schmerz und damit auch der Schutzmechanismus besonders stark: Der Konflikt wird aktiv weggeschoben. Diese Frauen wissen tatsächlich nicht von ihrer Schwangerschaft und fallen dann bei der Geburt aus allen Wolken.

sueddeutsche.de: Wie kommen Frauen, die so plötzlich Mutter werden, nach der Geburt mit ihrer Situation zurecht?

Rott: Die Kompensationsmöglichkeiten sind individuell sehr unterschiedlich. Auch wenn die Schwangerschaft in den letzten Schwangerschaftsmonaten entdeckt wird, rate ich zu einer psychologischen Begleitung, weil die Frauen mit der häufig schmerzhaften Realität erst mal zurechtkommen müssen. Studien, bei denen die Frauen nach der Geburt im Umgang mit ihren Kindern beobachtet wurden, deuten darauf hin, dass sie keine besseren oder schlechteren Mütter sind, aber häufig distanzierter. Wobei das nicht an ihrer Vorgeschichte liegt, sondern umgekehrt die unbemerkte Schwangerschaft aus ihrer Persönlichkeit resultiert: Bei Menschen, die distanzierter sind und alles in sich hineinfressen, ist das Risiko einer unbemerkten Schwangerschaft generell höher.

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