Massaker in Norwegen:Der Fährmann, der den Massenmörder auf die Insel brachte

Massaker in Norwegen: 600 Meter trennen die Insel vom Festland. Der Ort, an dem Johannes Dalen Giskes bester Freund Diderik erschossen wurde.

600 Meter trennen die Insel vom Festland. Der Ort, an dem Johannes Dalen Giskes bester Freund Diderik erschossen wurde.

(Foto: Julian Erbersdobler)

Johannes Dalen Giske transportierte am 22. Juli 2011 den Attentäter Anders Behring Breivik auf die Insel. Kurz danach waren 69 Menschen tot, auch Giskes bester Freund. Warum kommt er trotzdem immer wieder an diesen Ort zurück?

Von Julian Erbersdobler, Utøya

Er trägt die Mütze tief im Gesicht, bis zu den Augenbrauen, als sich die MS Thorbjørn durch das glatte Wasser schiebt. Johannes Dalen Giske schaut nach vorne und sieht: eine Insel, überzogen mit Schnee, nur die Kiefern ragen aus der weißen Masse wie Riesen. Minus neun Grad, Winter auf Utøya.

Der Ort, an dem viele seiner Freunde erschossen wurden, getötet von einem Mann, den Johannes Dalen Giske hierher gebracht hat. Die 17 Meter lange Fähre verbindet Utøya mit dem Rest der Welt. Wer auf die Insel will, muss vorher wie Giske an diesem eisigen Januartag mit dem Auto nach Utøykaia fahren, 45 Minuten vom Osloer Zentrum. Dann aufs Boot, 600 Meter durch den Tyrifjord, eines der besten Großforellengewässer Norwegens. Es ist die Route, die Anders Behring Breivik am 22. Juli 2011 nahm.

Als Breivik damals mit dem silbergrauen Fiat Doblò, Kennzeichen VH-24605, zur Anlegestelle fährt, hat Johannes Dalen Giske schon Hunderte Menschen vom Festland nach Utøya gebracht. Dorthin, wo der Nachwuchs der norwegischen Arbeiterpartei, kurz AUF, seit Jahrzehnten im Sommer zeltet. Giske hilft während des Feriencamps zum ersten Mal als Matrose auf der MS Thorbjørn aus.

Am Nachmittag spricht sich auf der Insel herum, dass im Osloer Regierungsviertel eine Bombe in die Luft gegangen ist. Ein lauter Knall, Glasscherben, Verletzte, Tote. Zehn Minuten lang kann Johannes Dalen Giske seine Mutter nicht erreichen. Giske weiß, dass sie und seine Schwestern, sechs und acht, mit dem Zug nach Trondheim fahren. Aber er weiß nicht, ob sie den um zwei oder um vier Uhr nehmen. "Ich hatte solche Angst", sagt er heute. Als er endlich hört, dass es ihnen gut geht, muss er weinen.

Johannes Dalen Giske, 28, spricht perfektes Englisch, er hat neun Jahre in London gelebt. Man kann ihm gut folgen. Giske hat ein blasses Gesicht, das im Kontrast zu seinem dunklen Mantel und der schwarzen Mütze noch heller aussieht, als es ist. Während er erzählt, muss er an manchen Stellen lachen. Es klingt so, als könnte er immer noch nicht glauben, was am 22. Juli 2011 passiert ist.

"Ist das wie bei einem schlechten amerikanischen Film?"

Gegen 17 Uhr meldet sich damals ein Kollege bei ihm auf dem Walkie-Talkie: Am anderen Ufer sei ein Polizist, der auf die Insel will. Giske macht noch einen Scherz: Wir haben doch gar keine Erlaubnis, sagt er, dann ruft er den Kapitän an, und die MS Thorbjørn macht sich auf den Weg zum Festland.

Als Breivik das Boot betritt, hört er Musik über seinen iPod, trägt eine dunkelblaue Polizeiuniform, eine kugelsichere Weste und ein halb automatisches Gewehr vom Typ Ruger Mini-14. Giske hält den Mann für einen Polizisten der Anti-Terror-Einheit. Für jemanden, der nach der Explosion in Oslo das Gefühl von Sicherheit vermitteln soll. Einer von den Guten.

Niemand ahnt, dass dieser Mann knapp zwei Stunden vorher die 950 Kilo schwere Bombe gezündet hat und dann mit einem Mietwagen Richtung Utøya gefahren ist. Dass er ausgerechnet hierher kommt. Auf die Insel, die viele Campteilnehmer nach den Meldungen aus Oslo für den sichersten Ort der Welt halten.

Als Breivik von Bord geht, bleibt Giske auf dem Boot. Dann hört er einen Schuss. Er denkt im ersten Moment, dass der Polizist seine Waffe testet. Nicht weit von Giske sitzt ein Mädchen, es sagt: "Ist das wie bei einem schlechten amerikanischen Film, wenn der Polizist ausflippt und alle abknallt?" Dann lachen beide.

Er hatte freie Sicht auf den Mörder

Auch siebeneinhalb Jahre danach weiß Johannes Dalen Giske noch all die Details, als hätte er die Polizeiakten vor sich. Aber eine Sache versteht er bis heute nicht. Der Norweger ist keine Minute auf Utøya, dann stapft er drei, vier Meter durch den Pulverschnee, steigt auf einen Stein, schaut Richtung Hauptgebäude mit dem Utøya-Schriftzug und sagt: "Jetzt bin ich ungefähr auf der Höhe wie im Boot: Wieso habe ich nichts gesehen? Ich dachte, er schießt auf den Boden." Das war es auch, was er der Polizei gesagt hat. Es gab keine Bäume, die im Weg standen, nichts. Er hatte freie Sicht auf den Mörder, sah aber nicht, wie er tötete.

Sicher ist: Johannes Dalen Giske hat Breivik mit der MS Thorbjørn nach Utøya gebracht, den Täter zu seinen Opfern. Von den 69 Toten kannte Giske 24 persönlich. "Ich war bei drei Beerdigungen, danach fehlte mir die Kraft. Den Sarg meines besten Freundes habe ich selbst getragen", sagt er und spricht von Diderik Aamodt Olsen. Diderik wollte von Herbst 2011 an Geschichte in Oslo studieren. Giskes bester Freund starb mit 19 Jahren, als er aus seinem Versteck kam, um mit dem Täter zu sprechen. Breivik schoss ihm in den Kopf. Am 31. Dezember 2010, an Silvester, haben Johannes und Diderik noch gemeinsam in den Himmel geschaut und irgendwie auch nach vorne, in ein neues Jahr, in die Zukunft.

Giske kam zum ersten Mal auf die Insel, als er zehn war. Mit 14 wurde er AUF-Mitglied, die Partei ist Teil seines Lebens, genau wie Utøya. Er läuft über die Insel wie ein Einheimischer, der Fremden seine Stadt zeigt. Die Bühne, den Zeltplatz, die Feuerstelle, den Baum, an den man seine Wünsche hängen kann. Damals, 2010, begleitete er seinen Onkel Trond. Der sprach auf dem Ferienlager als Minister. Es ist kein Zufall, dass Breivik hierher gekommen ist. Auf Utøya zelteten die Söhne, Töchter, Neffen, Nichten der wichtigsten Politiker Norwegens. Was auf der Insel beschlossen wurde, konnte das Land verändern.

Was mache ich als Erstes, wenn jemand schießt?

Johannes Dalen Giske hat eine Therapie gemacht, die ersten 24 Monate nach Utøya waren die Hölle. Er hat sein Studium abgebrochen. Er las eine Seite aus einem Buch und konnte sich nichts merken. Er besuchte keine Konzerte mehr und mied Veranstaltungen mit zu vielen Menschen, entwickelte Notfallpläne: Was mache ich als Erstes, wenn jemand schießt?

Einmal stand vor der Uni ein Van, der aussah wie Breiviks Wagen. Alarmglocken. Manchmal ging er aus dem Haus und dachte: Wenn ich zurückkomme, liegt jemand tot in der Wohnung. Er setzte sich in ein Flugzeug und dachte: Jetzt stürzen wir ab. Giske kann sich bis heute keine Filme anschauen, in denen jemand stirbt.

Er sagt, dass es ihm gut geht. Besser als vielen anderen. Seit 2014 studiert er Jura. Ihm hat geholfen, dass er wusste, wer für die Tat verantwortlich war. "Ich habe keine Schuld daran. Niemand auf der Insel hat das. Wir waren dort, weil wir den Wunsch nach einer besseren Welt haben. Eine Welt, in der sich die Menschen umeinander kümmern."

Nicht nur Johannes Dalen Giske hat sich verändert, auch Utøya musste sich wandeln. Diese Insel, an der seit dem 22. Juli 2011 gezerrt und gezogen wird wie an einem Erbstück, aufgeladen mit Emotionen. Es gibt die Eltern, deren Kinder auf der Insel hingerichtet wurden. Die Politiker, die die Deutungshoheit über das mörderische Ereignis beanspruchen. Und die Nachbarn, die verhindern wollen, dass der Terror-Tourismus überhandnimmt.

Allein in der Cafeteria tötete Breivik 13 junge Menschen. Manche Eltern wünschten sich, dass das Gebäude mit den vielen Einschusslöchern verschwindet, einfach weg. Andere wollten den Ort erhalten, an dem ihre Kinder zum letzten Mal am Leben waren. Mittlerweile sind Teile der Cafeteria in einem neuen Haus integriert, halb Gedenkstätte, halb Lernzentrum. Sie nennen es Hegnhuset, Schutzhaus. Das Dach wird von 69 Holzpfeilern getragen, als Symbol für die Opfer. Um das Haus herum stehen 495 Pfeiler. Einer für jeden Überlebenden.

Johannes Dalen Giske hat die Schlüssel für einige Türen auf Utøya, auch für dieses Gebäude. Drinnen gibt es eine große Wand mit einer Rekonstruktion der Tat, Zeitstrahl, Bilder, Tweets. Das Schlimmste sind die Chat-Verläufe zwischen Eltern und ihren Kindern. Sie beginnen als Dialog und enden mit Stille. Wie bei Benedichte, einem 15-jährigen Mädchen, das seiner Mutter geschrieben hat.

17.25: Mama, es geht uns nicht gut. Wir werden mit Schusswaffen angegriffen!

Was für eine Waffe?

Ruf die Polizei an! Sie müssen hierher kommen!

Hat das noch keiner gemacht? Gibt es dort keine Erwachsenen?

Doch! Mama, ich habe Angst, getötet zu werden!!! Hilf uns!

17.46: Ich habe mit der Polizei telefoniert, ruf mich an.

17.58: Ruf mich an.

18.13: Ich habe noch mal mit der Polizei gesprochen, sie ist jeden Moment auf Utøya. Ruf mich an. Soll ich kommen?

18.53: Ruf mich an. Ich werde dich abholen.

19.04: Soll ich kommen?

19.20: Bitte, bitte ruf an. Ich muss wissen, wo du bist. Dann hole ich dich ab.

Ganz am Ende, hinter den grünen und grauen Sprechblasen, steht: Benedichte wurde gegen 18.14 Uhr getötet. Als Johannes Dalen Giske die Nachrichten aus dem Norwegischen übersetzt, hat er Tränen in den Augen. Utøya ist ein unwirklicher Ort. In der alten Cafeteria hängen Bilder von jungen Menschen, die hier getötet wurden. Am Boden liegen verwelkte Rosen, Briefe, Herzen, Engel. "In diesem Türrahmen wurde eine Freundin erschossen." Giske zeigt auf ein Foto an der Wand. Ein lächelndes Mädchen, schulterlange blonde Haare, 16.

Mahnmal für Breivik-Opfer

Juli 2011: Blumen, Kerzen und Fahnen, die an die 69 Opfer des Rechtsextremisten Anders Behring Breivik erinnern.

(Foto: Joerg Carstensen/dpa)

Eine andere Freundin von Johannes Dalen Giske war auch in diesem Raum, versteckte sich hinter dem Klavier. Breivik schoss mindestens vier Mal auf sie, blutend konnte sich das Mädchen nach draußen retten. Dort halfen ihr mehrere Jugendliche, einer legte sich unter die junge Frau, damit sie warm blieb. Die anderen hielten die Wunden zu, retteten ihr Leben. Heute ist sie die Vorsitzende von AUF. Utøya ist nicht nur die Insel der Toten, sondern auch die der Lebenden, ein Ort, der sich nicht kleinkriegen lässt.

Giske erinnert sich noch, wie schwer der Sarg war

Als Giske am 22. Juli 2011 die ersten Schüsse hört, dauert es, bis er versteht, was los ist. "Da war plötzlich dieser Typ, der so gerannt ist, wie ich es in meinem Leben noch nie gesehen habe. Voller Panik." Erst jetzt wird ihm klar, dass er fliehen muss. Sie sind ungefähr zu acht, als die MS Thorbjørn ablegt. Giske kauert neben den anderen auf dem Boden des Decks, auch als sie sich schon Hunderte Meter von Utøya entfernt haben.

Etwa eine Stunde später steht Johannes Dalen Giske auf einem Campingplatz am Ufer des Tyrifjords. Dort kommen die Jugendlichen an, die sich ins Wasser gestürzt haben. Auf der Flucht vor den Schüssen. Giske umarmt sie, spendet Trost, funktioniert. Einem Mädchen gibt er seine Schuhe, die Füße bluten. Als es schon dunkel ist, sitzt er mit einem Kollegen in einem Caravan von belgischen Touristen. Die Urlauber bringen die beiden zum Hotel Sundvolden. Der Ort, der zur Anlaufstelle für die Traumatisierten wurde. Auf dem Weg dorthin sieht er einen Krankenwagen hinter dem anderen. "Für mich war es wie eine Szene aus einem Horrorfilm. Fast immer gibt es diesen Moment, wenn das Schlimmste vorbei ist. Dann zieht die Kamera auf, im Hintergrund spielen ein paar Streicher, und das ganze Ausmaß der Zerstörung wird klar."

Diderik, Johannes Dalen Giskes bester Freund, wurde am 5. August beerdigt. Giske erinnert sich noch, wie schwer der Sarg war. "Diderik war ein großer Junge, ungefähr 1,90." Wenn er über ihn spricht, fallen Wörter wie charmant, herzlich, schlau. Das erste Mal sahen sich die beiden auf Utøya, 2010. Giske fühlte sich damals einsam, war gerade erst von zu Hause ausgezogen. Er fand Diderik und die anderen, alle jung, alle Mitglieder bei AUF. In den ersten Monaten nach Dideriks Tod schrieb Johannes Dalen Giske manchmal auf die Facebook-Pinnwand seines besten Freundes: "Du fehlst mir."

Dideriks Name steht auch auf dem großen Metallring, der im Nordosten der Insel zwischen drei Bäumen schwebt. Giske ist gerne hier, besonders im Sommer. Auch wegen der Schmetterlinge, die dann um den Ring kreisen, weil hier spezielle Blumen gepflanzt wurden. Er mag das Denkmal, das auf Initiative der AUF entstand. "Es ist ein Kreis, es gibt niemanden, der zuerst, und niemanden, der zuletzt genannt wird. Jeder ist gleich viel wert." Ein staatliches Denkmal gibt es auch siebeneinhalb Jahre nach dem 22. Juli 2011 nicht.

Manche sind wütend auf die Regierung, die kein würdiges Denkmal findet

"Jeder hat das Recht, wütend zu sein", sagt Giske, als er vor dem großen Metallring steht. Viele haben der Polizei Vorwürfe gemacht, warum es so lange gedauert hat, bis sie den Täter stoppten. Manche waren wütend auf die AUF, weil hier seit 2015 wieder Ferienlager stattfinden. Andere auf die Regierung, die es nicht auf die Reihe bekommt, ein würdiges Denkmal zu finden.

Giske war wütend auf die Medien. Er ging davon aus, dass Breivik ihn auf dem Boot gar nicht wahrgenommen hatte. Dass sie zwei Fremde waren. Dann öffnet er an einem Sonntag im November 2011 um 23 Uhr eine norwegische Nachrichtenseite. Dort steht: Der Täter hat ihn nur nicht erschossen, weil er dachte, dass er kein Parteimitglied wäre. Breivik nannte das im Nachhinein einen "taktischen Fehler". Johannes Dalen Giske sagt: "Sie haben das einfach geschrieben, ohne eine Sekunde darüber nachzudenken, was das für mich bedeutet." Die Journalisten hatten Zugang zur Rekonstruktion der Polizei, die mit Breivik, gefesselt und schwer bewacht, auf die Insel zurückkehrte.

Giske kommt regelmäßig nach Utøya, er hat sich dafür eingesetzt, dass hier wieder gezeltet wird. Dass Breivik nicht gewinnt. Manchmal begleiten ihn norwegische Schüler, die sich freiwillig gemeldet haben. Sie übernachten auf Utøya, sprechen über den Anschlag, über Demokratie und Hate-Speech. "Wir sollten weniger hassen." Einer der Sätze, die Johannes Dalen Giske an diesem Wintertag immer wieder sagt. Seine Art, mit dem 22. Juli 2011 umzugehen. Es ist halb vier am Nachmittag, als er noch ein Foto vom Hauptgebäude macht, das er am Abend auf Instagram posten wird. Ein Bild von der Insel, die er nicht Breivik überlassen will.

Dann legt die MS Thorbjørn ab und Utøya wird kleiner und kleiner.

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