Er trägt die Mütze tief im Gesicht, bis zu den Augenbrauen, als sich die MS Thorbjørn durch das glatte Wasser schiebt. Johannes Dalen Giske schaut nach vorne und sieht: eine Insel, überzogen mit Schnee, nur die Kiefern ragen aus der weißen Masse wie Riesen. Minus neun Grad, Winter auf Utøya.
Der Ort, an dem viele seiner Freunde erschossen wurden, getötet von einem Mann, den Johannes Dalen Giske hierher gebracht hat. Die 17 Meter lange Fähre verbindet Utøya mit dem Rest der Welt. Wer auf die Insel will, muss vorher wie Giske an diesem eisigen Januartag mit dem Auto nach Utøykaia fahren, 45 Minuten vom Osloer Zentrum. Dann aufs Boot, 600 Meter durch den Tyrifjord, eines der besten Großforellengewässer Norwegens. Es ist die Route, die Anders Behring Breivik am 22. Juli 2011 nahm.
Als Breivik damals mit dem silbergrauen Fiat Doblò, Kennzeichen VH-24605, zur Anlegestelle fährt, hat Johannes Dalen Giske schon Hunderte Menschen vom Festland nach Utøya gebracht. Dorthin, wo der Nachwuchs der norwegischen Arbeiterpartei, kurz AUF, seit Jahrzehnten im Sommer zeltet. Giske hilft während des Feriencamps zum ersten Mal als Matrose auf der MS Thorbjørn aus.
Am Nachmittag spricht sich auf der Insel herum, dass im Osloer Regierungsviertel eine Bombe in die Luft gegangen ist. Ein lauter Knall, Glasscherben, Verletzte, Tote. Zehn Minuten lang kann Johannes Dalen Giske seine Mutter nicht erreichen. Giske weiß, dass sie und seine Schwestern, sechs und acht, mit dem Zug nach Trondheim fahren. Aber er weiß nicht, ob sie den um zwei oder um vier Uhr nehmen. "Ich hatte solche Angst", sagt er heute. Als er endlich hört, dass es ihnen gut geht, muss er weinen.
Johannes Dalen Giske, 28, spricht perfektes Englisch, er hat neun Jahre in London gelebt. Man kann ihm gut folgen. Giske hat ein blasses Gesicht, das im Kontrast zu seinem dunklen Mantel und der schwarzen Mütze noch heller aussieht, als es ist. Während er erzählt, muss er an manchen Stellen lachen. Es klingt so, als könnte er immer noch nicht glauben, was am 22. Juli 2011 passiert ist.
"Ist das wie bei einem schlechten amerikanischen Film?"
Gegen 17 Uhr meldet sich damals ein Kollege bei ihm auf dem Walkie-Talkie: Am anderen Ufer sei ein Polizist, der auf die Insel will. Giske macht noch einen Scherz: Wir haben doch gar keine Erlaubnis, sagt er, dann ruft er den Kapitän an, und die MS Thorbjørn macht sich auf den Weg zum Festland.
Als Breivik das Boot betritt, hört er Musik über seinen iPod, trägt eine dunkelblaue Polizeiuniform, eine kugelsichere Weste und ein halb automatisches Gewehr vom Typ Ruger Mini-14. Giske hält den Mann für einen Polizisten der Anti-Terror-Einheit. Für jemanden, der nach der Explosion in Oslo das Gefühl von Sicherheit vermitteln soll. Einer von den Guten.
Niemand ahnt, dass dieser Mann knapp zwei Stunden vorher die 950 Kilo schwere Bombe gezündet hat und dann mit einem Mietwagen Richtung Utøya gefahren ist. Dass er ausgerechnet hierher kommt. Auf die Insel, die viele Campteilnehmer nach den Meldungen aus Oslo für den sichersten Ort der Welt halten.
Als Breivik von Bord geht, bleibt Giske auf dem Boot. Dann hört er einen Schuss. Er denkt im ersten Moment, dass der Polizist seine Waffe testet. Nicht weit von Giske sitzt ein Mädchen, es sagt: "Ist das wie bei einem schlechten amerikanischen Film, wenn der Polizist ausflippt und alle abknallt?" Dann lachen beide.
Er hatte freie Sicht auf den Mörder
Auch siebeneinhalb Jahre danach weiß Johannes Dalen Giske noch all die Details, als hätte er die Polizeiakten vor sich. Aber eine Sache versteht er bis heute nicht. Der Norweger ist keine Minute auf Utøya, dann stapft er drei, vier Meter durch den Pulverschnee, steigt auf einen Stein, schaut Richtung Hauptgebäude mit dem Utøya-Schriftzug und sagt: "Jetzt bin ich ungefähr auf der Höhe wie im Boot: Wieso habe ich nichts gesehen? Ich dachte, er schießt auf den Boden." Das war es auch, was er der Polizei gesagt hat. Es gab keine Bäume, die im Weg standen, nichts. Er hatte freie Sicht auf den Mörder, sah aber nicht, wie er tötete.
Sicher ist: Johannes Dalen Giske hat Breivik mit der MS Thorbjørn nach Utøya gebracht, den Täter zu seinen Opfern. Von den 69 Toten kannte Giske 24 persönlich. "Ich war bei drei Beerdigungen, danach fehlte mir die Kraft. Den Sarg meines besten Freundes habe ich selbst getragen", sagt er und spricht von Diderik Aamodt Olsen. Diderik wollte von Herbst 2011 an Geschichte in Oslo studieren. Giskes bester Freund starb mit 19 Jahren, als er aus seinem Versteck kam, um mit dem Täter zu sprechen. Breivik schoss ihm in den Kopf. Am 31. Dezember 2010, an Silvester, haben Johannes und Diderik noch gemeinsam in den Himmel geschaut und irgendwie auch nach vorne, in ein neues Jahr, in die Zukunft.
Giske kam zum ersten Mal auf die Insel, als er zehn war. Mit 14 wurde er AUF-Mitglied, die Partei ist Teil seines Lebens, genau wie Utøya. Er läuft über die Insel wie ein Einheimischer, der Fremden seine Stadt zeigt. Die Bühne, den Zeltplatz, die Feuerstelle, den Baum, an den man seine Wünsche hängen kann. Damals, 2010, begleitete er seinen Onkel Trond. Der sprach auf dem Ferienlager als Minister. Es ist kein Zufall, dass Breivik hierher gekommen ist. Auf Utøya zelteten die Söhne, Töchter, Neffen, Nichten der wichtigsten Politiker Norwegens. Was auf der Insel beschlossen wurde, konnte das Land verändern.