Religion in den USA:So unsicher wie das Amen in der Kirche

Schlangen Prediger

Jimmy Morrow und seine Frau Pamela in ihrer Kirche.

(Foto: Hubert Wetzel)

In einigen Gemeinden der USA hält sich ein gefährlicher Brauch: das Anfassen giftiger Schlangen. Zu Besuch bei Menschen, die ihr Leben in Gottes Hand legen.

Von Hubert Wetzel, Middlesboro/Kentucky

Die Schlangen haben Gregory Coots viel genommen. Den kleinen Finger an seiner rechten Hand zum Beispiel, man kann es fühlen, wenn man sie ihm zur Begrüßung schüttelt. Eine Schlange hat ihn dort vor langer Zeit gebissen, und ihr Gift hat das Gewebe zerstört, sodass der Finger abgestorben ist.

Die Schlangen haben Gregory Coots auch seinen Sohn genommen. Jamie starb vor sechs Jahren, nachdem eine Klapperschlange ihn gebissen hatte. Er lag daheim im Bett, um ihn herum stand seine Familie. Sie hatten den Notarzt weggeschickt und beteten zu Gott, dass er Jamie retten möge. Aber Gott rettete Jamie nicht.

Und fast hätten die Schlangen auch noch Gregory Coots' Enkel getötet. Cody wurde voriges Jahr gebissen, wieder war es eine Klapperschlange. Sie erwischte ihn mit ihren langen Fängen am Ohr, Gift und Blut tropften auf sein Hemd. Cody verließ sich nicht auf Gott. Er ging ins Krankenhaus und überlebte. Von Schlangen, so sagen die Leute, habe Cody jetzt genug.

Doch obwohl seine Schlangen ihm so viel Leid gebracht haben, sorgt Gregory Coots gut für sie. Er füttert sie, er wärmt sie, er pflegt sie. Er ist davon überzeugt, dass Gott es so will. Und drei Mal in der Woche, jeden Mittwoch, Samstag und Sonntag, legt Coots eine seiner Schlangen in eine Transportkiste aus Holz und nimmt sie mit in seine kleine, weiße Kirche.

An der Wand hängt ein Kalender, ein Werbegeschenk eines Bestattungsinstituts

Gregory Coots ist ein freundlicher Herr Anfang siebzig. Seine Haare sind weiß. Aber er kann noch kräftig singen, und obwohl ihm ein Teil der Hand fehlt, spielt er gut Gitarre. Coots ist Pastor. Seine Kirche, das Full Gospel Tabernacle in Jesus' Name, steht in der Kleinstadt Middlesboro im Südosten von Kentucky, tief in den Bergen der Appalachen. Die Gemeinde ist nicht groß, an einem Samstagabend im Herbst sitzen kaum ein Dutzend Menschen auf den Bänken. Und es ist auch kein gewöhnlicher Gottesdienst, zu dem sie gekommen sind. Sie sind nicht hier, um eine erbauliche Predigt von Pastor Coots zu hören oder von ihm das Abendmahl zu empfangen.

Gott zu preisen ist im Full Gospel Tabernacle stets mit einer gewissen Gefahr für Leib und Leben verbunden. An der Wand hängt ein Kalender, ein Werbegeschenk eines örtlichen Bestattungsinstituts. Daneben ist ein Schild angebracht, auf dem eine Warnung steht: "Kinder dürfen nicht in den ersten beiden Bankreihen sitzen." Sie müssen Abstand halten. Denn vorne in der Kirche - da sind die Schlangen.

Coots ist einer der wenigen Pastoren in Amerika, die noch das sogenannte Snake Handling oder Serpent Handling praktizieren, eine geheimnisvolle, mitunter recht gefährliche Tradition, bei der die Gläubigen während des Gottesdienstes giftige Schlangen in den Händen halten. Entstanden ist das Snake Handling vor mehr als hundert Jahren in den Appalachen, einer waldigen, düsteren Bergregion, die sich von Pennsylvania über Virginia und West Virginia, Kentucky, Tennessee und die Carolinas bis nach Alabama zieht. Die meisten großen christlichen Konfessionen in den Vereinigten Staaten halten das Snake Handling für sektiererischen Hokuspokus. Aber in einigen freien, streng gläubigen Pfingstgemeinden wird es bis heute betrieben.

Das Snake Handling ist kein heidnisches Ritual, es hat nichts mit der Anbetung oder Beschwörung der Tiere zu tun. Für die Menschen, die die Schlangen anfassen, ist es ein Glaubensbeweis - ein Zeichen, dass sie zu den Seligen gehören, zu denen, die bereit sind, ihr Leben in die Hand des Herrn zu geben.

Morrow fängt auch die Mäuse, die er an seine Schlangen verfüttert

Denn so steht es in der Bibel, und die Bibel nehmen Coots und die Menschen, die in seine Kirche kommen, wörtlich: "Die Zeichen aber, die folgen werden denen, die da glauben, sind diese", heißt es im Markus-Evangelium, Kapitel 16, Vers 17 und 18. "In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, in neuen Zungen reden, Schlangen mit den Händen hochheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird's ihnen nicht schaden." Und bei Lukas steht in Kapitel 10, Vers 19: "Seht, ich habe euch Macht gegeben zu treten auf Schlangen und Skorpione, und Macht über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch schaden."

Pastor Jimmy Morrow fängt seine Schlangen im Wald. Copperheads, die so heißen, weil sie einen dreieckigen, kupferfarbenen Kopf haben; Cottonmouths, deren Mund, wenn sie ihn vor dem Biss aufreißen, innen weiß leuchtet wie ein Bällchen Baumwolle; und Klapperschlangen, dick und schwarz gestreift und mit einer Rassel, die scharf und trocken schnarrt, wenn die Tiere wütend sind. Morrow, ein großer, hagerer Mann, fängt auch die Mäuse, die er an seine Schlangen verfüttert. "Als ich jünger war, hatte ich dreißig oder vierzig Schlangen", erzählt er.

Aber jetzt ist Morrow Mitte sechzig, und so viele Schlangen zu versorgen wäre ihm zu mühsam. Stattdessen malt er lieber - naive Ölbilder, die biblische Szenen zeigen, und mit denen er seine Kirche schmückt. "Im Moment habe ich nur noch fünf Schlangen", sagt Morrow. Eine hat er mitgebracht, eine sandbraune Copperhead, die unbeweglich in einer Holzkiste liegt, deren Deckel mit einem kleinen Vorhängeschloss abgesperrt ist. Morrow hat den Kasten selbst gebaut, in eine Seite hat er das Wort "Jesus" geschnitzt.

Alle Versuche, das Snake Handling zu verbieten, sind gescheitert

Morrows Kirche, die Church of God in Jesus Christ's Name, steht in Edwina, einem Dorf in Tennessee, das aus kaum mehr als einer Straßenkreuzung und ein paar schiefen Häusern besteht. Die Appalachen waren immer schon arm. Aber sie waren auch immer ein Ort voller Mysterien, wo in engen Tälern zwischen nebelverhangenen Bergen rätselhafte Dinge passieren. Auch das steht in der Bibel, in der Apostelgeschichte, Kapitel 7, Vers 38: Die Gemeinde versammelt sich in der Wildnis. "Das sind Zeichen, die uns die Schift gibt", sagt Morrow. "Und außerdem leben hier die Schlangen."

Die Menschen in den Appalachen sind eigenwillig und stur, sie mögen es nicht, wenn Sheriffs oder Richter ihnen sagen, wie sie Gott in ihren Kirchen zu feiern haben. Alle Versuche, das Snake Handling gesetzlich zu verbieten, sind deswegen gescheitert. Inzwischen ist es in den meisten Bundesstaaten, in denen es noch stattfindet, entweder als legaler religiöser Ritus anerkannt, oder es wird von den Behörden zumindest geduldet. Die Pastoren bekommen allenfalls Probleme, wenn sie gegen Tierschutzgesetze verstoßen. Oder wenn Gläubige gebissen werden und sterben, dann ermittelt die Polizei. Schätzungen zufolge gibt es noch 50 bis 120 Gemeinden in Amerika, in denen das Snake Handling praktiziert wird; zusammen haben sie vielleicht tausend oder zweitausend Mitglieder.

Bei Pastor Morrow sind es ungefähr fünfzehn Menschen, die regelmäßig in seinen Gottesdienst kommen. Morrow hatte früher in der Nähe von Edwina eine Farm, er hat das Land mit Pferden gepflügt und Mais und Tabak angebaut. Davon haben er und seine Frau Pam gelebt. Doch Morrows wahre Berufung war es, Gottes Wort zu verbreiten. Seit er klein war, habe er gewusst, dass er eines Tages eine Kirche bauen werde, sagt er. Und er wusste, dass die Schlangen dazugehören werden. "In meiner Familie haben wir das immer schon gemacht." Als er 18 war, ging Morrow zum ersten Mal in die Berge, um Schlangen zu fangen.

Schlangen Prediger

Für den Gottesdienst hat der Pastor eine Copperhead-Schlange dabei.

(Foto: Hubert Wetzel)

Morrow öffnet den Holzkasten und nimmt die Copperhead vorsichtig heraus. "Oh Jesus", murmelt er, "oh Jesus, ich glaube an Jesus, halleluja, im Namen von Jesus Christus." Er hält die Schlange mit beiden Händen, das Tier bewegt sich träge und tastet mit der Zunge in der Luft herum. So friedlich sind die Schlangen nicht immer. Morrow ist in den vergangenen Jahren drei Mal gebissen worden, in die Hände und in die Brust. "Sie sind schnell wie ein Blitz, ich habe die Bisse gar nicht gesehen", sagt er. "Und es tut sehr weh." Trotzdem sagt Morrow, dass er nie Angst habe, die Schlangen anzufassen. "Man darf keine Angst empfinden. Nur Liebe."

Wie viele von den Pastoren aus der alten Generation ist auch Morrow wegen der Bisse nicht zum Arzt gegangen. So ist der Glaube: Wenn die Schlange nicht beißt, dann ist das Gottes Wille. Wenn sie beißt, dann ist das auch Gottes Wille. Dann kann der Verletzte beten und den Herrn um Heilung bitten. Und wenn der Herr es will, dann heilt er, so wie er Jimmy Morrow drei Mal geheilt hat und Gregory Coots, der nur einen Finger verloren hat.

Doch manchmal lässt Gott den Verletzten sterben, so wie er Jamie Coots nach dem Biss der Klapperschlange sterben ließ. Das kommt in den Snake-Handling-Gemeinden immer wieder vor, manchmal sterben Pastoren, manchmal Gottesdienstbesucher, die eine Schlange in die Hände genommen haben. Insgesamt sind 90 bis 120 Todesfälle durch das Snake Handling dokumentiert. Doch die Gläubigen nehmen das mit einer fast tröstlichen Gelassenheit hin. Ein tödlicher Schlangenbiss bedeutet für sie, dass die Zeit, die Gott diesem Menschen gegeben hat, vorbei war. "Wir verlassen diese Erde nicht, bevor Gott nicht bereit für uns ist", sagt Morrow.

Drei Menschen riskieren an diesem Sonntag ihr Leben

Jeden Sonntag um eins feiert Jimmy Morrow Gottesdienst. Vorher betet er an einem großen Felsblock, der hoch oben an einer steilen Bergflanke hinter seiner Kirche liegt. Morrow hat dort das Gebüsch weggehackt, er hat die Bäume gefällt und zersägt und an dem Hang einen Friedhof angelegt. Zwei Menschen sind hier begraben, zwei langjährige Mitglieder seiner Gemeinde. Irgendwann wird auch er hier liegen. Der Stein, an dem er betet, ist sein Grabstein. Er hat sein Geburtsjahr, seinen Namen und den seiner Frau darin eingemeißelt: 1955, Jimmy Morrow, Pamela.

Der Gottesdienst dauert ungefähr eineinhalb Stunden. Nur eine Handvoll Gläubige sind an diesem Sonntagmittag gekommen, darunter Morrows Bruder und eine Familie mit zwei kleinen Kindern, etwa sechs und sieben Jahre alt. Es sind einfache Menschen, und sie feiern einen einfachen Gottesdienst: Sie beten, sie danken Gott für alles, was gut ist in ihren Leben, und sie bitten ihn um Beistand für Menschen, denen es nicht gut geht. Sie stehen reihum auf und singen einfache Lieder über die Liebe Gottes und Jesus, ihren Retter. Es gibt keine Orgel, und anders als Pastor Coots spielt Pastor Morrow auch nicht Gitarre. Bei Morrow muss Gott sich mit den Stimmen der Gläubigen begnügen, die sein Lob singen, und die sind zumindest an diesem Tag rau und schräg und nicht immer ganz im Takt. Aber das stört die Gottesdienstbesucher nicht. Sie heben die Hände, manche weinen, und ab und an stößt einer der Gläubigen einen verzückten Schrei aus. "Jesus" oder "Halleluja".

Und dann kommt der Moment, in dem - so beschreiben es die Pastoren - der Heilige Geist zu ihnen spricht und ihnen sagt, dass sie nun die Schlange in die Hände nehmen sollen. Morrow öffnet die Kiste, er nimmt die Copperhead heraus. Er balanciert das Tier auf seinen Händen und wiegt es hin und her. Die Schlange hängt zwischen seinen Fingern, während Morrow zur Gemeinde spricht: "Das ist das Wort Gottes: Sie sollen Schlangen aufheben." Manche Pastoren trinken auch Gift, Strychnin, so wie es im Markus-Evangelium steht, aber das macht Jimmy Morrow nicht. Er reicht die Schlange seiner Frau, diese gibt sie an Morrows Bruder weiter. "Als ich gebetet habe, hat jemand mich berührt", singt der Pastor mit gepresster Stimme. "Es muss die Hand des Herrn gewesen sein." Nach einigen Minuten legt Morrow die Schlange wieder in ihre Kiste. Drei Menschen haben an diesem Sonntag ihr Leben riskiert, um Gott zu zeigen, wie tief und fest ihr Glaube ist.

Gregory Coots mag nicht über seinen verstorbenen Sohn Jamie reden. Er zuckt die Schultern, wenn man ihn danach fragt, und schaut auf den Boden, dahin, wo die Kiste mit der Schlange steht. Aber Jimmy Morrow, der die Familie Coots gut kennt und bei Jamies Beerdigung gepredigt hat, sagt, dass der Tod des Sohnes den Glauben des Vaters nicht ins Wanken gebracht habe. "Das sind gute Leute", sagt er. "Sie haben am Evangelium festgehalten, auch als der Sohn gestorben ist."

Und was soll er auch herumkritteln am Willen Gottes? "Wenn es Zeit ist zu gehen", sagt Morrow, "dann ist es Zeit zu gehen."

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