Süddeutsche Zeitung

Urteil zur Präimplantationsdiagnostik:Der Embryo als Produkt

Das BGH-Urteil zur Präimplantationsdiagnostik verstärkt den Anspruch, dass gesundes Leben planbar und kontrollierbar ist. Diese Machbarkeitsvorstellung ist vermessen.

Werner Bartens

Das Leben ist ein einziges Risiko. Ständig drohen Gefahren. Die Umschreibung "von der Wiege bis zur Bahre" ist längst unzureichend, um die Zeitspanne vom Anfang bis zum Ende des Lebens gänzlich zu ermessen. Schließlich droht bereits mit der Zeugung Ungemach; genau genommen sogar schon vorher, wenn beispielsweise die Erbanlagen in den Keimzellen ungünstig verteilt oder verändert sind. Der Zustand der Gesundheit und Unversehrtheit ist jedoch permanent prekär. Jederzeit, in jedem Entwicklungsstadium und in jedem Alter kann das Schicksal ebenso plötzlich wie wuchtig Krankheit, Leid und Tod bringen.

Schicksal? Gesunde, Patienten und erst recht viele Ärzte haben sich daran gewöhnt, Grundbedingungen des Lebens wie Geburt und Tod nicht mehr als unverfügbares Geschick zu verstehen, sondern als individuell gestaltbare Prozesse, die medizinisch-technisch manipuliert, beschleunigt oder verzögert werden können. Dass der Bundesgerichtshof (BGH) es fortan erlaubt, vor der künstlichen Befruchtung mittels Prä-Implantationsdiagnostik (PID) schwere genetische Schäden aufzuspüren, verstärkt den Anspruch und die Wahrnehmung, das Leben und besonders ein gesundes Leben jederzeit planen, herstellen und kontrollieren zu können. Diese Machbarkeits-Vorstellung ist gleich in mehrfacher Hinsicht vermessen.

Krankheiten, Fehlbildungen und Behinderungen entstehen nur zum geringen Teil durch Chromosomen-Schäden oder Genveränderungen. Unfälle, schädliche Umweltfaktoren und Lebensumstände bringen unvorhersehbares Leid mit sich, und auch eine noch so hochgerüstete Medizin kann sie nie ganz ausschließen. Die Geburt eines gesunden Kindes können selbst die günstigsten Erbanlagen - was immer man darunter verstehen mag - nicht gewährleisten. Ein Großteil der Beeinträchtigungen des Neugeborenen entsteht durch Schädigungen während der Schwangerschaft oder Komplikationen bei der Geburt, die sich nie werden vermeiden lassen.

Es zeugt zudem von einer unzulässigen Vereinfachung, mit der Analyse der Erbanlagen Krankheiten zielsicher erkennen oder ausschließen zu wollen. Viele der Mutationen, die bisher bekannt sind, erhöhen die Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung nur um wenige Prozentpunkte. Von welcher Schwelle an fällt die Entscheidung, einen Embryo nicht einzupflanzen und auszutragen? Wenn das Tumorrisiko 15Prozent überschreitet oder die Wahrscheinlichkeit für eine Behinderung 25Prozent beträgt? Ob die Krankheit je manifest wird und wenn ja, wie stark, ist bei fast allen genetischen Analysen ungewiss. Ob Gene aktiviert werden und folglich eine Krankheit ausbricht, ist von Dutzenden weiterer Gene, von Umweltfaktoren und der Lebensführung abhängig und nie sicher vorherzusagen, auch wenn unseriöse Anbieter von Gentests dies versprechen.

Oft ist es auch unmöglich, die Schwere eines möglichen Schadens einzuschätzen. Aber auf eben jenen "Schutz vor schweren genetischen Schäden" beruft sich der BGH in der Urteilsverkündung. Welche Probleme der Abgrenzung Eltern wie Ärzte bekommen könnten, zeigt das Beispiel Mukoviszidose. Dieses häufige Erbleiden hat seine Ursache in einem Gendefekt auf Chromosom 7. Manche Menschen mit der Krankheit leiden ständig an schwersten Lungenentzündungen, chronischer Atemnot und Verdauungsproblemen und sterben vor dem 30.Lebensjahr. Andere haben trotz des gleichen Gendefekts eine fast normale Lebenserwartung. Bei kaum einem Erbleiden lässt sich der weitere Lebens- und Leidensweg sicher prognostizieren.

Noch schwieriger wird die Grenzziehung zwischen den Erkrankungen. Man muss nicht die - aus wissenschaftlicher Sicht unrealistische - Utopie von herangezüchteten blonden, blauäugigen Muskel- und Intelligenzbestien bemühen, um vor Missbrauch und Erosion der neuen Regelung zu warnen. Beginnt der schwere Schaden schon mit einer Ballung von Alzheimer-Genen, der gestiegenen Wahrscheinlichkeit für Diabetes, dem Hang zur Taubheit oder der Anlage zu einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte? Oder erst mit einer Tumorneigung, drohender geistiger Behinderung und dem Risiko erheblicher Fehlbildungen? Man kann sich vorstellen, dass einige Eltern sich für die künstliche Befruchtung allein deshalb entscheiden werden, um die Möglichkeiten der genetischen Analysen möglichst umfassend auszuschöpfen.

Eltern behinderter Kinder kommen schon heute gelegentlich in die Lage, sich rechtfertigen zu müssen. Krankheit ist nach dieser Sichtweise kein schicksalhaftes Unglück mehr, sondern Folge des eigenen Handelns oder - im Falle unterbliebener Diagnostik - Nichthandelns. Kranke und ihre Angehörigen werden so zu Opfern ihrer selbst, denn das Versäumnis einer unterlassenen Untersuchung scheint ja offenkundig zu sein. Zu dem Leid kommen Schuldvorwürfe. Der Urteilsspruch des BGH trägt dazu bei, Zweifel und Unsicherheiten werdender Eltern zu erhöhen. Werden die Nachkommen immer mehr zum herstellbaren und überprüfbaren Produkt, wer wollte das Ergebnis da noch den Launen der Natur überlassen und nicht selbst frühzeitig Planung und Qualitätskontrolle übernehmen.

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Quelle:
SZ vom 08.07.2010/seng
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