Ursachen der Kindesmisshandlung:Aus Hilflosigkeit wird ohnmächtige Wut

Immer wieder sterben Babys, von ihren Eltern zu Tode geschüttelt. Wie es zu solchen Krisen kommen kann, erklärt Ruth Wollwerth de Chuquisengo, Diplompsychologin im Münchner Kinderzentrum.

Monika Goetsch

Die Ambulanz für Schreibabys im Kinderzentrum an der Heiglhofstraße existiert seit 1991. Seither haben sich dort 3500 Familien mit exzessiv schreienden Babys Hilfe geholt. Im Juli hat das Kinderzentrum mit Unterstützung des SZ-Adventskalenders ein Krisentelefon eingerichtet (Mittwoch, Freitag, Samstag, Sonntag von 19 bis 22 Uhr, Telefon 0800/7100900).

Ursachen der Kindesmisshandlung: Die Therapeutin Ruth Wollwerth de Chuquisengo mit einem ihrer kleinen Patienten.

Die Therapeutin Ruth Wollwerth de Chuquisengo mit einem ihrer kleinen Patienten.

(Foto: Foto: Robert Haas)

Ruth Wollwerth de Chuquisengo arbeitet im Kinderzentrum als Diplompsychologin und Eltern-Säuglings/Kleinkind-Therapeutin.

SZ: Immer wieder werden Säuglinge von Müttern oder Vätern geschüttelt, dabei mitunter schwer verletzt oder gar getötet. Wie kommt es zu solchen Krisen?

Wollwerth: Meist durch akute Überforderung. Doch sind Überforderungsgefühle im Umgang mit Säuglingen völlig normal. Alle Säuglingen schreien in den ersten drei Monaten, ohne dass man den Grund kennt oder sie beruhigen könnte.

SZ: Manche Eltern überstehen das.

Wollwerth: Der Grad der Überforderung kann sehr unterschiedlich sein. Die meisten Säuglinge sind ja "pflegeleicht". Doch etwa zwanzig Prozent sind anders. Sie schreien oft stundenlang, und die Eltern wissen nicht, warum. Sie nehmen ihr Baby hoch, wiegen es hin und her, versuchen es zu beruhigen. Gelingt das, fühlen sie sich in ihren Elternrolle bestätigt und in ihrem Selbstwertgefühl bestärkt.

SZ: Und wenn es nicht gelingt?

Wollwerth: Dann entsteht ein Teufelskreis. Die Eltern leiden unter massiver Erschöpfung, unter wachsendem Schlafdefizit. Darum können sie ausgerechnet diesen Kindern, die so viel mehr Hilfestellungen bräuchten, nicht mehr helfen.

SZ: Und warum reagieren sich manche Eltern ausgerechnet dadurch ab, dass sie das Kind schütteln?

Wollwerth: Unablässiges Schreien des Babys verursacht Stressreaktionen bei den Eltern. Puls und Blutdruck sind erhöht, es kommt zu Schweißausbrüchen. Gesteigerte Erregung, begleitet von Gefühlen der Hilflosigkeit und des Versagens, führt bei fast allen Eltern zu Aggressionen und zu einer ohnmächtigen Wut auf das Baby.

Leichtes Schaukeln des Kindes kann zum lebensgefährlichen Schütteln werden. Doch das sind Einzelfälle, den Impuls dazu spüren allerdings sehr viele Eltern, unabhängig von ihrer sozialen Stellung oder Bildung.

SZ: Was passiert dabei mit dem Kind?

Wollwerth: Babys haben noch keine stabile Nackenmuskulatur. Darum können sie die Schüttelbewegung nicht auffangen. Der Kopf schlenkert, das Gehirn ist starken Rotations- und Fliehkräften ausgesetzt. Das kann zu Einrissen des Gehirns führen, zu Prellungen und Gehirnblutungen - auch, wenn ein Baby auf eine weiche Unterlage geworfen wird.

SZ: Die Folgen?

Wollwerth: Etwa 15 Prozent der geschüttelten Babies sterben, 50 Prozent sind zumeist massiv mehrfach behindert.

SZ: Wie können Sie dem vorbeugen?

Wollwerth: Zunächst geht es um Entlastung. Wir verdeutlichen betroffenen Eltern, dass ihre Gefühle völlig normal sind. Oft hilft ihnen schon, ihre aggressiven Impulse zu beschreiben. Schließlich regiert in den Köpfen das Bild vom "Elternglück". Man sieht andere Mütter, die keine Probleme haben, und zweifelt an der eigenen Kompetenz. Selbstunsicherheit und Schuldgefühle sind die Folge.

SZ: Was können Eltern konkret tun?

Wollwerth: Ihr Kind schützen, indem sie es sicher ablegen und den Raum verlassen, sobald sie Aggression in sich spüren. Wir zeigen den Eltern darüber hinaus, wie man den Babys durch starke Strukturierung des Alltags unnötige Überreizungen erspart. Und wir achten darauf, dass sich Eltern Entlastung holen und zu Kräften kommen, um die erste Zeit mit dem Kind besser zu überstehen.

Aus Hilflosigkeit wird ohnmächtige Wut

SZ: Das Schreien verwächst sich?

Wollwerth: Zumeist zwischen dem dritten und sechsten Monat, ja.

SZ: Und danach?

Wollwerth: Ist der soziale Hintergrund stabil, hat die Eltern-Kind-Beziehung nicht zu sehr gelitten, kann es normal weitergehen. Doch liegen zusätzliche Risikofaktoren vor, kann die Beziehung dauerhaft leiden. Es kommen Familien zu uns mit extremen Paarproblemen, Existenzsorgen und wenig Halt in der Ursprungsfamilie. Dann hilft eine Eltern-Säuglings-Psychotherapie.

SZ: Werden schon Babys therapiert?

Wollwerth: Wir therapieren nicht die Babys, sondern die Beziehung zwischen Eltern und Kind. Ein Ziel der psychotherapeutischen Arbeit ist es, den Eltern eine unverzerrte Wahrnehmung des Säuglings zu ermöglichen. Das kann sehr gut gelingen.

Zu uns kam einmal ein Akademikerpaar mit ihrem kleinen, zwei Monate alten Jungen - ein Wunschkind. Die Eltern waren blass, die Mutter weinte viel im Erstgespräch. Ihr Kind schrie viele Stunden, auch in der Nacht. Irgendwann stand sie mit einem Kissen am Bett des Kindes, kurz davor, das Schreien zu ersticken. Ihr Mann wachte auf, fiel ihr in den Arm, tröstete sie.

Wir haben der Familie lange zugehört, eine Depression bei der Mutter behandelt, eine Haushaltshilfe beantragt, geholfen, den Alltag und den Umgang mit dem Kleinen zu strukturieren. Nach einiger Zeit hat sich das Baby stabilisiert. Jetzt geht es der Familie gut.

SZ: Die gefährliche Wut auf das eigene Baby kann also jeden treffen?

Wollwerth: Wer ein exzessiv schreiendes Kind hat, entwickelt fast immer massive Ohnmachts- und Wutgefühle. Ich erlebe oft zugewandte, fürsorgliche, gebildete Eltern, die zutiefst erschrecken über ihre negativen Emotionen. Und bestürzt wahrnehmen, dass sie kurz davor waren, ihr Kind zu misshandeln. Obwohl das Baby vor allem eins bräuchte: ihre Hilfe.

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