Süddeutsche Zeitung

Urlaub für Hartz-IV-Kinder:Wenn die Flucht aus dem Alltag zum Luxus wird

Urlaub? Für schätzungsweise mehrere Millionen Kinder in Deutschland ein Fremdwort, ihre Familien können sich eine Reise einfach nicht leisten. Längst ist darüber eine politische Debatte entbrannt: über ein "Recht auf Urlaub". Doch das kritisiert selbst der Kinderschutzbund.

Von Tobias Dirr

Ein fetter, schwarzer Käfer ist das Haustier und ein Stein die Türglocke. Immer wieder verschwindet der sechsjährige Marlon* im Unterholz und schleppt Gestrüpp heran - das Dach ist noch nicht dicht. Ihm bleiben nur noch wenige Minuten Zeit, dann muss alles fertig sein.

Neben ihm hämmert der neunjährige Juri eifrig auf einen Baumstumpf. Seine Turnhose ist mehr grün als grau. "Vom Fußball", sagt er und grinst. Juri ist vor einem Jahr aus Russland nach Deutschland gekommen. Mit seiner Mutter teilt er sich ein Zimmer in einer Notunterkunft in München. Weil seine Mutter viel arbeitet, ist er oft allein, erzählt er. "Das nervt. Aber hier ist so viel los."

Juri und Marlon sind zwei von 27 Kindern zwischen fünf und zwölf Jahren, die gerade ihre eigenen Häuser inmitten eines kleinen Waldes im Chiemgau bauen. Antje Breda lässt sich alles zeigen. Stolz präsentiert die fünfjährige Laura den Garten, den sie gemeinsam mit zwei anderen Mädchen angelegt hat. Vier Stöcke begrenzen ein Beet. Anstelle von Blumen wachsen hier Steine, Äste und Blätter.

Für die Kinder sei der Urlaub ein Highlight des Jahres

Antje Breda ist die Leiterin des Münchner Standorts von Arche e.V., einem christlichen Kinder- und Jugendwerk mit bundesweit 19 Standorten. Der Verein bietet Freizeitangebote und Hausaufgabenbetreuung für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche an. Einmal im Jahr fährt sie mit ihnen in den Sommerurlaub. Mit den Teenagern ging es an die Nordsee, die Jüngeren spielen gerade auf dem Lernbauernhof Seimlhof in der Nähe von Traunstein.

"Die Urlaube sind jedes Jahr ein Highlight, von dem die Kinder das ganze Jahr über sprechen", sagt Breda. Kaum ein Kind, das zu ihr in die Arche kommt, fährt mit den Eltern in den Urlaub. "Für viele ist die eine Woche der einzige Urlaub, den sie haben." Die meisten Kinder wohnen im Münchner Stadtteil Moosach, wo vom Reichtum Münchens manchmal wenig zu spüren ist.

Gibt es ein "Recht auf Urlaub"?

In diesen Tagen enden in den letzten Bundesländern die Sommerferien. Ein Urlaub? Für schätzungsweise mehrere Millionen Kinder in Deutschland ein Fremdwort. Längst ist darüber eine politische Debatte entbrannt: über ein "Recht auf Urlaub".

Laut dem Deutschen Kinderhilfswerk lebt hierzulande jedes fünfte Kind unter 18 Jahren in Armut - etwa 2,8 Millionen Kinder. Als arm gelten Kinder, deren Eltern weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Bruttoeinkommens verdienen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung setzt die Armutsgrenze für Alleinerziehende mit einem Kind bei rund 1300 Euro an, bei einem Paar mit zwei Kindern bei etwa 2070 Euro.

Derzeit müssten etwa drei Millionen Kinder aus finanziellen Gründen auf Urlaub verzichten, sagt Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Kinderhilfswerks. Dabei sei es insbesondere für arme Kinder wichtig, etwas Neues zu erleben, weil viele nur selten aus ihrem Stadtviertel herauskommen.

Die Kinder lernen anderswo Selbständigkeit und entdecken Neues

"Viele Kinder, die zu uns kommen, wissen gar nicht, wie man spielt oder wie man Geschichten erzählt", sagt auch Sozialpädagogin Antje Breda. "Sie können sich nicht konzentrieren und sind verhaltensauffällig." Das ändere sich, wenn die Kinder aus ihrem Umfeld herauskommen. "Auf dem Bauernhof lernen sie, selbständig Dinge zu entdecken. Hier kommen sie zu sich." Für manche sei es das erste Mal, dass sie eine Kuh sehen und diese auch berühren können.

Neu ist für viele Kinder auch das strikte Handyverbot. "Das war schon hart. Aber langsam hab ich mich dran gewöhnt", sagt der neunjährige Juan. Tief versteckt im Wald haben er und drei andere Jungs ihr Haus mit Gestrüpp getarnt. "Ein Jägerunterstand." Daheim wohnt er mit seiner Schwester bei seinem alleinerziehenden Vater. Der arbeitet im Schichtdienst.

50 Euro für eine Woche auf dem Bauernhof

Zu dem einwöchigen Urlaub auf dem Bauernhof müssen die Familien 50 Euro beisteuern. "Wir möchten, dass auch die Eltern ihren Anteil tragen", sagt Breda. In besonderen Fällen übernimmt die Arche die gesamten Kosten. "Manchmal ist das Geld einfach nicht da."

Gerade für Familien, die Hartz IV beziehen, kann das Geld schnell knapp werden. Derzeit liegt der Hartz-IV-Regelsatz für Kinder bei 296 Euro im Monat. Darüber hinaus gibt es seit 2011 das Bildungs-und Teilhabepaket für Kinder, deren Eltern Hartz IV, Sozialhilfe, Kinderzuschlag oder Wohngeld beziehen. Darin enthalten sind zehn Euro pro Monat, die für Musikkurse, Sportvereine oder Ferienfreizeiten verwendet werden können.

Wer das Geld zwölf Monate lang auf die Seite legt, dem bleiben 120 Euro für einen Jahresurlaub. Zum Vergleich: Durchschnittlich gibt jeder Deutsche für seinen zwölftägigen Urlaub 906 Euro aus.

"Die Linke"-Chefin Kipping fordert ein Recht auf Urlaub

Katja Kipping, die Partei-Chefin der Linken, fordert deshalb ein Recht auf Urlaub. Geht es nach ihr, dann sollen bedürftige Erwachsene in Zukunft Urlaubsgutscheine im Wert von 500 Euro erhalten. Außerdem sollen Kinder aus einkommensschwachen Familien zwei Wochen lang kostenlos Urlaub in einer Ferienfreizeit machen können.

Die Bundesregierung lehnt ein solches Recht auf Urlaub und zusätzliche Unterstützung ab. Sie verweist auf bereits bestehende Hilfsprogramme. Aber auch die Kinderschutzverbände kritisieren das Gutscheinsystem. Für Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, ist das nur eine Notlösung. Die "Überbürokratisierung bei den Familienleistungen" in Deutschland sei ohnehin "geradezu katastrophal". Er fordert eine Kindergrundsicherung von 500 Euro im Monat, die dann auch für einen Urlaub ausreichen würde.

Bisher gibt es nur einzelne Programme oder Hilfe von Vereinen

Derzeit erhalten bedürftige Kinder Zuschüsse von einzelnen Gemeinden oder Trägern der Diakonie für kirchliche Ferienfahrten. Aber auch die Kommunen stellen Fördermittel bereit. Die Stadt Hamburg schickt pro Jahr 300 Kinder zum Skifahren, Segeln oder Surfen. Anstatt solche Angebote auszuweiten, würden viele Städte und Gemeinden ähnliche Förderprogramme jedoch kürzen, sagt Hilgers.

Und so bleiben oft nur gemeinnützige Träger wie die Arche e.V., die mit bedürftigen Kindern in den Urlaub fahren. "Am Ende wollten alle noch viel länger bleiben", sagt Antje Breda. Aber dafür fehlt das Geld, weil der Verein sich beinahe zu 100 Prozent aus Spenden finanziert. Um alle Häuser im Wald fertig zu bauen, dafür hat die Zeit jedoch gereicht. Und beim letzten gemeinsamen Abendessen wird das schönste Haus gekürt: Blumenbeet schlägt Jägerunterstand.

* Die Namen der Kinder sind geändert

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Quelle:
SZ vom 13.09.2014/frdu
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