Urbanes Leben:Das Verschwinden der Mülleimer

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Tokio gilt als eine der saubersten Metropolen der Welt. Dabei gibt es dort keine öffentlichen Abfallbehälter - was wiederum mit einem Anschlag vor 25 Jahren zu tun hat.

Von Thomas Hahn

Eine verzweifelte Suche hat begonnen in den Häuserschluchten von Shibuya, und es sieht nicht so aus, als könnte sie erfolgreich sein. Es ist ein strahlender Sommertag in Japans Hauptstadt, Tokios berühmter Spaß- und Shopping-Bezirk wirkt herausgeputzt und einladend. Wegen der Pandemie sind die Menschenmassen nicht ganz so erdrückend. Diverse Baustellen sind verschwunden, die Zebrastreifen frisch nachgezogen. Und nach verschiedenen Neueröffnungen scheinen die unbegrenzten Einkaufsmöglichkeiten noch ein bisschen unbegrenzter geworden zu sein.

In dieser Landschaft des Überflusses ein Eis am Stiel zu essen, schien keine große Sache zu sein, aber jetzt sind da dieser kleine klebrige Holzstiel sowie die bunte klebrige Kunststofffolie, in die das Eis eingepackt war. Und zwischen all den Konsumtempeln, Schaufenstern, lärmenden Reklametafeln und internationalen Markengeschäften ist tatsächlich kein öffentlicher Abfalleimer zu finden, bei dem man diesen Müll in der Hand loswerden könnte.

Das Gift der Endzeit-Sekte sollte im Untergrund der Großstadt seine Wirkung voll entfalten

Die Mülleimer, die es nicht gibt, sind eine Eigenheit Japans. Im Grunde sind sie sogar eine Attraktion. Denn obwohl die Straßen und Plätze im Inselstaat frei sind von Abfallbehältern, sind die Städte so besenrein, als gäbe es in Japan gar keinen Müll. Auch an diesem Samstagnachmittag in Shibuya sieht man auf den Bürgersteigen zwischen den Passanten keine Kippe, kein verlorenes Taschentuch, keinen Eisstiel, den entnervte Mülleimersucher in der Not einfach fallen gelassen haben. Ist Japan keine Wegwerfgesellschaft wie etwa Deutschland, wo man sich von mehr Mülleimern mehr Sauberkeit verspricht? Oder sind die fehlenden Mülleimer vielleicht sogar der Grund dafür, dass so gut wie nichts rumliegt, was nicht rumliegen soll?

Die Geschichte von der Abschaffung der Mülleimer in Japan hat verschiedene Facetten. Sie erzählt von kulturellen Eigenheiten und bürgerlicher Verantwortung. Und sie begann an einem der schlimmsten Tage in Tokios Geschichte.

Am Morgen des 20. März 1995 betreten fünf Mitglieder der Endzeitsekte Aum Shinrikyo an verschiedenen Stationen Züge der U-Bahn-Linien Hibiya, Marunouchi und Chiyoda. Sie sind im tödlichen Auftrag ihres spirituellen Führers Shoko Asahara unterwegs, eines halb blinden Gewaltfantasten, der eigentlich Chizuo Matsumoto heißt und aus der Familie eines armen Tatamimattenherstellers stammt. Die Männer haben mit Zeitungspapier getarnte Plastikbeutel dabei, die das Nervengift Sarin enthalten, und Regenschirme mit geschärften Spitzen. Es ist die Hauptverkehrszeit. Die Menschen sind auf dem Weg zur Arbeit. Schweigend und sorglos drängen sie sich in den Waggons, die durch den Tokioter Untergrund rumpeln. Die Züge mit den Sektenmitgliedern fahren alle zur Station Kasumigaseki, ein Knotenpunkt in Tokios Behördenviertel. Vor allem dort soll das Gift seine Wirkung entfalten. Die Männer lassen die Beutel in der Masse fallen und zerstechen sie mehr oder weniger erfolgreich mit den Spitzen der Regenschirme. Dann hasten sie nach draußen.

Um zwanzig nach acht erreichen erste Meldungen die Notrufzentrale. Die Anrufer berichten von seltsamen Gerüchen, von Passagieren, die sich übergeben, von anderen, die auf dem Bahnsteig zusammenbrechen. Es werden immer mehr Anrufe, Feuerwehr, Rettungswagen und Polizei rücken aus, während sich in den U-Bahnhöfen verstörende Szenen abspielen. Menschen taumeln und fallen, verstehen nicht, warum ihre Körper nicht mehr funktionieren, rufen panisch um Hilfe oder fühlen sich so schlecht, dass sie weder laufen noch sprechen können. Angst und Verwirrung greifen um sich. Binnen Minuten wird Tokios Normalität zum Albtraum.

"Wenn wir einen Mülleimer hier haben, dann kommt doppelt so viel Müll, wie in den Eimer passt."

Mehr als 6000 Menschen wurden damals verletzt. Die Zahl der Todesopfer stieg im vergangenen März auf vierzehn, als Sachiko Asakawa im Alter von 56 Jahren starb, die nach der Attacke 25 Jahre lang mit schweren Hirnschäden gelebt hatte. Asahara und zwölf seiner Gefolgsleute wurden zum Tode am Strang verurteilt und 2018 hingerichtet. Und der Schock saß tief: Der Anschlag auf die U-Bahn-Linien traf Tokios Lebensader, das Symbol für Japans unermüdliche Fleißgesellschaft. Er zeigte Wohlstandsgesellschaften auf der ganzen Welt, dass es auch in Friedenszeiten eine tödliche Bedrohung für die Zivilbevölkerung gibt - durch den Terror religiöser oder sonstiger Fanatiker. Die Japaner lernten, dass Religionsfreiheit nicht bedeuten darf, gar kein Auge auf die Bewegungen selbsternannter Heilsversprecher zu werfen. Aleph, Aum Shinrikyos Nachfolge-Organisation, steht unter Überwachung. Und ein weiterer Ausdruck des neuen Misstrauens war der Umstand, dass Japans Regierung die Mülleimer abschaffte. Niemand sollte mehr irgendwo etwas wegstecken können, das die öffentliche Sicherheit gefährdet. Erst im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass sich die Entscheidung auch in anderer Hinsicht bewährte.

"Müll ruft Müll", sagt Kazuo Morita, Abteilungsleiter für Umweltmaßnahmen in Shibuyas Umweltbehörde. Er sitzt im zwölften Stock des neuen Bezirksrathauses in einer geräumigen Aufenthaltszone. Durch die Fenster kann man Shibuyas wildes Häusermeer sehen. In einem Regal ist die Ausgabe eines britischen Freizeitmagazins ausgestellt, das eine Shibuya-Ansicht zeigt und die Zeile: "This ist Tokyo, the Greatest City on Earth".

Morita trägt Maske während des Gesprächs, aber seine Augen lachen. Er war schon Verwaltungsangestellter, als sich die Sarin-Attacke ereignete, aber er erinnert sich nicht mehr an den Tag. Vielleicht will er sich auch nicht erinnern. Auf jeden Fall ist er ein Verfechter der Stadt ohne öffentliche Mülleimer. Vergnügt rechnet er vor: "Wenn wir einen Mülleimer hier haben, dann kommt doppelt so viel Müll, wie in den Mülleimer passt. Wenn wir zwei Mülleimer haben, kommt Müll für drei Mülleimer. Wie finden Sie die Theorie?"

Die Theorie ist wohl schon etwas mehr als eine Theorie. Denn vor der Gasattacke gab es ja Mülleimer in Shibuya - und sauberer als jetzt kann der Bezirk damals nicht gewesen sein. Außerdem kommen gerade dieser Tage Nachrichten aus Deutschland, die Moritas Aussagen bestätigen: Hamburg meldet überquellende Papierkörbe und zugemüllte Grünanlagen, dabei verfügt die Hansestadt über ein reichhaltiges Angebot an Mülleimern. Die Leute verreisen gerade nicht wegen der Pandemie, picknicken im Park und sind es gewohnt, ihren Müll in öffentlichen Mülleimern zu entsorgen. Also tun sie das - auch wenn die Mülleimer voll sind. In Japan kann man auf diese Idee nicht mehr kommen, und die Leute passen sich an. Kazuo Morita sagt: "Im Grunde ist es gut, dass man den Müll nach Hause nimmt."

Er spricht auch von Beschwerden. Anrufe, E-Mails. Manchen ist es eben doch zu beschwerlich, sich um jeden Papierschnipsel selbst zu kümmern. Außerdem zieht Shibuya ein internationales Publikum an. Viele Universitäten sind hier, viele Clubs, viel junges Partyvolk, das in Tokios hellen Nächten seine Bierdosen dann doch nicht nach Hause mitnimmt. Vor allem Halloween ist groß geworden, sogar "unkontrollierbar", wie Morita sagt. Manche Einheimische regen deshalb an, zumindest vor diesem lauten Christfest Mülleimer aufzustellen. Und natürlich überlässt die Bezirksverwaltung die Nachbarschaft in den tollen Nächten nicht sich selbst. Kazuo Morita zeigt Fotos von provisorischen Müllsammelstellen mit riesigen, prall gefüllten Plastiksäcken. Müll bleibt nie lange liegen in Japan, das will er damit sagen.

Aber wahr ist schon, dass die Selbstreinigungskräfte der Stadt groß und beharrlich sind. "Mit den Olympischen Spielen 1964 kam eine Bewegung der Stadtverschönerung", sagt Kazuo Morita, "daher kommt das wahrscheinlich." Ladenbesitzer achten auf die Straßen vor ihren Geschäften. Und neben den Mitarbeitern von Reinigungsunternehmen, die im Auftrag der Stadt arbeiten, sind regelmäßig ganze Mannschaften aus ehrenamtlichen Saubermachern unterwegs, die bei Bedarf jeden Zigarettenstummel einzeln aufklauben. "Wer in Japan das Gefühl hat, etwas Gutes erfahren zu haben, gibt das zurück" - so erklärt Kazuo Morita, dass teilweise sogar Leute aus anderen Stadtteilen mit Besen und Schaufel anrücken, um Shibuyas Straßen zu reinigen. Außerdem lernt man in Japan früh, was Verantwortung für den öffentlichen Raum bedeutet: An den Schulen putzen Kinder und Jugendliche ihre Klassenzimmer selbst.

Der Schlüssel zur Sauberkeit sind die Menschen, die Regeln befolgen und sich an Gegebenheiten anpassen. Etwas abzuschaffen ist in Japan ein bewährtes Konzept, um die Gesellschaft zu ordnen. Man soll hier zum Beispiel nicht im Gehen rauchen, sondern nur in den öffentlichen Raucherbuden, in denen man dann auch seine Zigarettenstummel lassen kann. So landen weniger Kippen auf dem Bürgersteig. Und dass es keine Mülleimer gibt, ist im Grunde auch nur die etwas elegantere Art, Müll im öffentlichen Raum zu verbieten.

Andere Städte haben nach Terrorattacken ebenfalls Mülleimer abmontiert. Aber dort sind sie irgendwann wiedergekommen, in Japan nicht. Und ohne Wegwerfmöglichkeiten wirft auch niemand was weg - so einfach ist das in Kazuo Moritas Welt. Eisesser, die auf der Straße ihren klebrigen Holzstab loswerden wollen? Sandwichkonsumenten, die nach dem Verzehr die Plastikverpackung durch die Straße tragen? Kazuo Morita lächelt nachsichtig unter seiner Maske und sagt: "Wir essen Sandwiches nicht auf der Straße."

In der Allee vor dem Yoyogi-Park hat eine elegante Frau gerade ihre beiden lebhaften Chihuahuas wieder eingefangen. Man kann sie also kurz fragen, wie das ist, in einer Stadt Gassi zu gehen, in der man auch die Hinterlassenschaften der Hunde nicht gleich entsorgen kann. Nichts Besonderes mehr. Die Frau zeigt auf ihre Tragetasche mit Leopardenmuster. Das ist ihre Hundekottasche, streng zu unterscheiden von den Taschen, in denen sie ihr Portemonnaie oder sonstige Utensilien mit sich führt. "Viele Japaner haben das", sagt sie. Und es stimmt: Ein eigenes Täschchen für den Dreck des Haustiers scheint zum Standard Tokioter Gassigeher zu gehören.

Ein paar ausgewählte Möglichkeiten gibt es doch, in japanischen Städten etwas wegzuwerfen. Am S-Bahnsteig von Shibuya steht ein Mülleimer für Plastik und Papier. Ein Herr, der gerade angekommen ist, holt eine leere Sandwichverpackung aus seiner Tasche und entsorgt sie dort. Wer in den Konbinis, den 24-Stunden-Märkten, einkauft, kann seinen Müll in den dortigen Abfallbehältern belassen. Und der Müll vom Steckerleis war nach einem längeren Spaziergang irgendwann auch untergebracht. Im Yoyogi-Park, einem beliebten Ort zum Picknicken, fanden sich ein paar erlösende Container.

© SZ vom 22.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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