Unternehmen:Perfekte Lügner

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Manche Menschen wollen gerne mal weg, ohne dass es auffällt. Was man dazu braucht? Eine gute Ausrede oder, noch besser: ein Alibi.

(Foto: Cortis & Sonderegger/13 Photo)

Ein Seitensprung ohne Risiko? Ein Bilderbuch-Partner für einen Abend? Kein Problem, mit der Alibi-Agentur.

Von Elena Adam

An diesem Abend muss Martin Kinst, der eigentlich anders heißt, nicht schauspielern. Er sitzt in der hinteren Ecke der Hotelbar, in einem dieser furchtbar schicken Ledersessel, in denen kein Mensch weiß, wohin er mit seinen Armen soll. Die Ellenbogen auf den Lehnen ablegen geht nicht, weil die viel zu hoch sind, und dann sieht es so aus, als säße da ein dominantes Gorillamännchen in Angriffshaltung. Kinst rutscht noch ein Stück nach vorne, weiß immer noch nicht, wohin mit den Händen und guckt durch den Raum. Er weiß nicht, wie die Frau aussieht, mit der er sich gleich treffen wird. Das ist ungewöhnlich, sonst bekommt der 31-Jährige vor jedem Treffen ein Foto, einen Steckbrief und einen Lebenslauf, um sich auf seine Rolle als menschliches Alibi vorzubereiten. Er weiß dann, an welcher Schule seine Begleitung ihren Abschluss gemacht hat, ob sie Rotwein mag oder Bier, wie ihr Haustier heißt und ob sie eine Laktose-Intoleranz hat. Das alles hat ihm die Reporterin, mit der er hier verabredet ist, nicht verraten. Sie hat auch kein Foto geschickt. Aber sie beobachtet ihn schon eine Weile, Kinst merkt das. Er geht zu ihr rüber. Große Schritte, feste Stimme, der Mann ist Profi - ein Alibi-Profi.

Jede gefälsche Einladung, jede Hotelrechnung stammt von real existierenden Unternehmen

Kinst ist selbstständiger Unternehmensberater und arbeitet nebenbei für eine Alibi-Agentur aus Bremen. Die Firma verkauft Doppelleben im Akkord. Dabei ist den Alibi-Profis nichts heilig, sie bieten alles an: fingierte Telefonanrufe und Briefe, Adressen weltweit, gefälschte Fotos und Hotelreservierungen, angebliche Lebenspartner und Jobs, Facebook-Profile, Strohmänner, Doktortitel, gefälschte Lügendetektor-Tests. Ein Gemischtwarenladen für menschliche Abgründe. Seit 16 Jahren gibt es die Firma, die sich auf ihrer Webseite "einzige seriöse Alibi-Agentur im deutschsprachigen Raum" nennt.

Das Prinzip ist einfach: Wer eine Woche Urlaub mit der Geliebten verbringen möchte, kann davon seiner Frau nichts erzählen. Die Umsetzung ist kompliziert: Ein glaubwürdiges Alibi muss her. Eine Einladung zu einem einwöchigen dienstlichen Seminar vielleicht. Am besten sollte die per Post ins Haus kommen , dann kann man sie beiläufig auf dem Küchentisch liegen lassen. Gut ist es auch, wenn jemand anruft und das Seminar noch einmal telefonisch bestätigt, dabei vielleicht sogar auf den Anrufbeantworter spricht. Und natürlich kann hinterher eine Hotelrechnung nicht schaden.

Die Logistik rund um den Seitensprung erledigt die Alibiagentur, auch in "komplexen Fällen". Seminareinladungen, Telefonanrufe, Rechnungen - alles gibt es gefälscht und mit dem Briefkopf real existierender Firmen ins Haus geliefert. Weiter heißt es auf der Internetseite des Unternehmens: "Hierbei machen sich die über Jahre aufgebauten Beziehungen zu professionellen Partner-Firmen, Hotels, Büro-Services, Reiseveranstalter etc. bemerkbar, so dass die Partnerin ihre ,Beruhigungspille' auch professionell, kompetent und glaubwürdig ,serviert' bekommt."

In der Hotelbar werden zur Beruhigung jetzt Weißbier und Weißwein serviert. Beides zusammen passt kaum auf das winzige Tischchen. Es genügt eine Bemerkung darüber, dass modernes Design wohl eher für Pygmäenhütten geschaffen ist, und Kinst schlägt sofort vor, später noch in eine Kneipe umzuziehen. Da gebe es zumindest einen Tresen. Dieses Gespür für Menschen und Situationen braucht er für seinen Job. Kinst arbeitet für die Agentur auch als "Schauspieler". Vor kurzem hatte er einen Auftrag in Berlin: Eine lesbische Frau musste in ihrem Freundeskreis nun endlich ihren erfundenen Freund vorstellen. Im Ernst? "Klar. Die Menschen sind so. Das ist vielleicht traurig, aber bei uns läuft es im Moment richtig gut", sagt Kinst. Er lächelt gern, wenn er von der Arbeit spricht. Man kann sich gut vorstellen, wie dieser große schlanke Mann mit dem Vollbart an so einem Alibi-Abend wunderbar die Klischees der Freunde erfüllt. Was für ein hübsches Paar! Und wie aufmerksam er ist!

Kinst sieht aus wie einer, der sich makellos in hippe Restaurants und Endlosgespräche über Fernreisen und urbanes Leben einfügt. Aber auch das ist nur Theater, denn später am Abend wird er in einer Classic-Rock-Kneipe am Tresen sitzen, viele kurze Cocktails mit dem Namen eines amerikanischen Kampfbombers trinken und sagen, dass er Bremen eigentlich schön genug findet. Die Kunden der Alibi-Agentur gehören aber größtenteils zur zahlungskräftigen Oberschicht. Da geht es nicht ohne weltmännisches Gequatsche. Aber hoffentlich ohne Fummeln? "Wir machen keinen Escort!" Auch nicht für einen Bonus? "Nein, und zum Glück hat noch nie jemand danach gefragt", sagt Kinst.

In wenigen Tagen wird er nach London fliegen, dort eine Deutsche zu einer Firmenfeier begleiten und sich als ihr Lebensgefährte ausgeben. Die Frau hat von der Agentur eine Kartei bekommen, aus der sie sich ihren Begleiter aussuchen konnte. Viele Kunden haben ihren Kollegen und Freunden schon beschrieben, wie ihr imaginärer Partner aussieht, deshalb muss der Schauspieler zu diesem Bild passen.

"Die Leute denken immer, wir sind so etwas wie eine Fremdgeh-Agentur", sagt Kinst. "Es gibt aber tausend andere Gründe, warum sich unsere Kunden an uns wenden." Er erzählt von einer Frau, für die er schon seit mehreren Jahren fingierte Telefongespräche übernimmt. Die Kundin hat Krebs und keine Lust, der Familie ihres Ex-Freundes in regelmäßigen Abständen über ihren Gesundheitszustand zu berichten. "Sie wollte den Kontakt abbrechen, aber das konnte sie nicht. Deshalb rufe ich bei der Familie ihres Ex-Freundes an und gebe mich zum Beispiel als ihr Vater oder Arzt aus", erklärt Kinst. Der echte Vater lehnt den Kontakt zu der anderen Familie ab, und der behandelnde Arzt spricht natürlich nur mit den Verwandten der Frau.

Streit und Stolz sind häufige Gründe, warum die Kunden Profis für Lügen engagieren. Oft ist es auch Verzweiflung: wie bei der Frau, deren Arbeitgeber beinahe jeden Monat das Gehalt zu spät überweist. "Sie muss das Geld zu Hause bei ihrem Mann abgeben", sagt Kinst. "Wenn es zu spät kommt, glaubt der Mann ihr nicht und droht ihr. Dann rufen wir dort an und geben uns als Arbeitgeber aus und erfinden irgendeinen Grund, warum sich die Überweisung verzögert."

Kinst weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn man dringend ein Alibi braucht. Vor einigen Jahren traf er seine Jugendliebe wieder und verliebte sich noch einmal in sie. Dumm nur, dass er zu dieser Zeit eine feste Freundin hatte und mit ihr zusammenwohnte. Seine erste große Liebe ging ihm trotzdem nicht aus dem Kopf. "Ich musste einfach herausfinden, was da noch zwischen uns war", sagt er. "Ich wollte ja nur ein bisschen Zeit, um mir darüber klar zu werden." Die Jugendliebe wohnte mittlerweile in einer anderen Stadt und Kinst verbrachte immer öfter seine Wochenenden bei ihr. Beide Frauen sollten nichts voneinander erfahren. Kinst fand die Alibi-Agentur über Google und buchte Ausreden für ein halbes Jahr. "So musste ich nicht selber lügen. Das war dann okay für mich." Aufgeflogen ist die Sache nie. Welche der beiden Frauen am Ende gewonnen hat? Keine. "Ich habe mich dann von beiden getrennt", sagt er. Die Alibi-Agentur ging ihm aber nicht mehr aus dem Kopf, er bewarb sich als freier Mitarbeiter.

Warum macht man so etwas? "Es ist eine ganz andere Dankbarkeit, die die Kunden haben. Viel ehrlicher", sagt Kinst und es hört sich etwas seltsam an, aus dem Munde eines professionellen Täuschers plötzlich das Wort Ehrlichkeit zu hören. "Die Leute sind wirklich verzweifelt, und wenn man ihnen dann aus so einer Situation hilft, bedeutet es ihnen viel." Was so klingt wie Werbung für einen Sozialdienst, ist in Wirklichkeit ein gnadenloses Geschäft. Nicht selten sind die Kunden mächtig, sie leiten große Firmen und Konzerne. Das erleichtert die Arbeit der Agentur enorm. Jede gefälschte Einladung, jede Flugbestätigung und jede Hotelrechnung, die nur zu Täuschungszwecken verschickt wird, stammt angeblich von real existierenden Unternehmen, in deren Chefetagen Kunden der Agentur sitzen.

Sogar gefälschte Arbeitsverträge sind möglich. Wer sich nicht mit dem Gedanken anfreunden kann, bei der Frage nach dem Beruf ehrlich zu antworten: "Ich bin Prostituierte", kann über die Agentur einen Arbeitsvertrag kaufen, der die freiberufliche Tätigkeit als Ergotherapeutin bestätigt. Rechtlich gesehen sei das kein Problem, da die gefälschten Arbeitsverträge keinen anderen Zweck erfüllen, als die private Täuschung. Die "freien Mitarbeiter" schreiben nie Rechnungen und die Firmen heften sie lediglich als Karteileichen ab. "Steuerlich oder sonst irgendwie ist mit diesen Verträgen niemandem geholfen", sagt Kinst.

Er hat schon ein paar Getränke zu sich genommen, die Namen der Partnerfirmen verrät er trotzdem nicht. Er grinst nur. Man bekommt eine Ahnung davon, wie viel Spaß ihm dieser Job macht. Ein Rosenverkäufer kommt durch die Tür und guckt Kinst erwartungsvoll an. "Sie will nicht. Sie ist unromantisch", antwortet er. An diesem Abend muss Martin Kinst nicht schauspielern. Zum Glück. Sonst hätte er den ganzen Strauß kaufen müssen.

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