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Unerfüllter Kinderwunsch:Wenn die Sehnsucht nach einem Kind krank macht

Fünf Jahre lang hat Marion Fischer versucht, schwanger zu werden. Künstliche Befruchtung und Eizellenspende halfen nicht. Unterschätzt hat sie dabei den seelischen Schmerz, aus dem eine Depression wurde.

Von Kerstin Lottritz

Immer, wenn die Bauchkrämpfe die nächste Blutung ankündigten, wusste Marion Fischer: Es hat wieder nicht geklappt. Sie war wieder nicht schwanger. Monat für Monat wuchs die Traurigkeit. Irgendwann kamen Verzweiflung und Wut dazu. Fünf Jahre lang versuchte sie, ein Kind zu bekommen. "Ich habe das einfach nicht verstanden", sagt die heute 38-Jährige. "Wieso klappt es bei allen anderen, nur bei mir nicht?"

"Für viele Paare, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, ist der Druck auf Dauer schwierig zu ertragen", sagt Petra Thorn. Sie ist Familientherapeutin und Vorsitzende des Beratungsnetzwerks Kinderwunsch Deutschland (BKiD). Zu ihr kommen Frauen und Männer, die Hilfe brauchen, um mit der psychischen Belastung in dieser Zeit umzugehen. Ungewollte Kinderlosigkeit gilt noch immer als Tabuthema. "Für viele ist es eine große Überwindung, sich psychologische Hilfe zu holen", sagt Thorn, "bevor sie kommen, haben sie oftmals einen jahrelangen Leidensweg hinter sich."

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Das Geschäft mit dem unerfüllten Kinderwunsch boomt. Welche Erfahrungen haben etwa eine Leihmutter oder ein Spenderkind mit der Reproduktionsmedizin gemacht? Und müssen wir uns früher mit dem Ende der eigenen Fruchtbarkeit beschäftigen? Lesen Sie hier alle Texte zum Thema.

Marion Fischer war Ende 20, arbeitete als selbständige Cutterin, als sie mit ihrem Mann eine Familie gründen wollte. Als sie nach einem halben Jahr immer noch nicht schwanger war, ging sie zu ihrer Frauenärztin. In den folgenden Jahren ließ sie sich in vier Kinderwunschkliniken in mehreren Städten behandeln: Drei Inseminationen und drei Intrazytoplasmatische Spermieninjektionen (ICSI) waren erfolglos. Zwei Mal ist sie mit ihrem Mann zur Eizellenspende nach Spanien gereist. Aber das Wunschkind, in das sie insgesamt 70 000 Euro investierte, blieb aus. "Es war eine grauenvolle Zeit", sagt sie heute, "es ging immer nur um Hormone, Werte, Follikel und die Behandlung." Auf immer neue Hoffnung folgte zu Hause im Badezimmer die Enttäuschung, wenn der Schwangerschaftstest wieder nur einen einsamen Streifen anzeigte.

Psychologen wissen: Nach wiederholt erfolglosen Versuchen kann aus der Trauer eine Depression werden. Gefühle wie Hilflosigkeit und Ohnmacht, aber auch starkes Grübeln und sozialer Rückzug können Symptome dafür sein. "Ich war neidisch auf schwangere Frauen." Marion Fischer suchte bei Freunden und Familienmitgliedern Trost. Aber helfen konnten die ihr auch nicht. "Fahrt doch mal in den Urlaub, dann klappt das schon", rieten ihr einige. "Das war nur verletzend", sagt sie, "ich fühlte mich nicht ernst genommen."

Hartnäckig hält sich der Mythos, Paare blieben ungewollt kinderlos, wenn sie zu sehr an ihrem Kinderwunsch festhalten, Stress oder Probleme in der Partnerschaft haben. Doch Reproduktionsmediziner finden heute bei etwa 80 Prozent der Paare auf beiden Seiten Faktoren, die ihre Fruchtbarkeit belasten können. Der Hauptgrund ist noch immer das Alter - sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Dass die fruchtbarste Zeit einer Frau mit Mitte 20 endet, ist den wenigsten bekannt. Ebenso, dass bei Männern ab 40 die Spermaproduktion und Qualität nachlässt.

Marion Fischer flüchtete sich in Internetforen, um mit Gleichgesinnten über ihre Sorgen und Ängste zu sprechen. "Niemand, der das nicht erlebt hat, kann das verstehen." Auf Seiten wie wunschkinder.net, 9monate.de oder eltern.de finden sich zu jeder Phase des Kinderwunsches gleichgesinnte Gesprächspartnerinnen. In diesem Mikrokosmos entwickeln die Betroffenen ihre ganz eigene Sprache. Anonym, aber mit bezeichnenden Namen wie "Wunschmami", "krümel", oder "Frau Storch" "hibbeln" sie einer Schwangerschaft entgegen. Jeder Behandlungsschritt, jede Frage und Sorge wird in diesem Raum ausführlich besprochen.

Die Teilnehmerinnen sprechen über medizinische Begriffe, die sie verniedlichen oder abkürzen. Der Follikel wird "Folli", das Hormonpräparat Clomifen "Clomi" und der Muttermund "Mumu" genannt. Dazwischen blinken Smileys, die zum Durchhalten animieren sollen. Die geballte Verzweiflung und Traurigkeit findet sich in den Signaturen. Nicht nur die Anzahl der Übungszyklen sind hier aufgeführt, auch die der nicht erfolgreichen Behandlungen und Fehlgeburten. Manche Signaturen sind viele Zeilen lang.

In den Foren fand Marion Fischer das Verständnis, das sie sich von ihren Freunden gewünscht hatte. Sie fieberte mit den anderen mit und holte sich Kraft für ihre eigenen Behandlungen. "Es ist auch eine Bestätigung für das Selbstwertgefühl, wenn man für einen Kommentar besonders viele ,Likes' bekommt", sagt sie. Doch dann fing wieder das Vergleichen an. Andere Frauen aus der Gruppe wurden schwanger, sie selbst nicht. Sie meldete sich aus dem Forum ab - um sich ein paar Tage später wieder anzumelden. Marion Fischer weiß heute, dass sie von der Diskussion im Internetforum "teilweise schon abhängig" war.

Sich aus dieser Schleife nur schwer lösen zu können, sei die negative Seite der Internetforen, sagt Therapeutin Petra Thorn. Doch gerade für Frauen im ländlichen Raum seien sie oftmals die Alternative zu fehlenden Selbsthilfegruppen. "Im Internet bekommt man jederzeit schnell Hilfe." Deshalb empfiehlt sie Foren, in denen auch hin und wieder ein Experte Rat gibt - damit dort "kein gefährliches medizinisches Halbwissen" weitergetragen wird.

Erst nach dem Zusammenbruch war sie bereit, Hilfe anzunehmen

"Erst, wenn ein Tiefpunkt erreicht ist, wagen manche Betroffene den Schritt zur psychologischen Beratung", sagt Petra Thorn. Bei Marion Fischer war es nach einer Eizellenspende so weit. Der Reproduktionsmediziner und der Biologe, der im Labor die Eizellen künstlich befruchtet hatte, waren besonders optimistisch. Als der Anruf kam, dass sich aber die einzige befruchtete Eizelle nicht weiter entwickelt habe, brach sie zusammen, weinte tagelang. Adoption als Alternative kam für sie nicht in Frage. "Ich hatte das Gefühl, keine richtige Frau zu sein, wenn ich es nicht schaffe, schwanger zu werden."

Der Druck wurde unerträglich. "Die psychologische Belastung ist so groß, weil es sich jeden Monat anfühlt, als würde man eine geliebte Person verlieren", sagt Petra Thorn. Der stete Wechsel zwischen Hoffnung und Enttäuschung werde irgendwann zu viel. Viele Paare würden sich dann entscheiden, mit ihrem Kinderwunsch abzuschließen. So auch Marion Fischer. "Ich wollte mich endlich wieder normal fühlen."

Die Therapie hat ihr geholfen, die schwierigste Zeit ihres Lebens zu überwinden. Paare müssen eine alternative Lebensperspektive entwickeln, sagt Petra Thorn. Sie rät aber, sich schon viel früher psychologische Hilfe zu holen. Paarkonflikte können so gelöst, Krisen bewältigt und Entscheidungen über medizinische Behandlungen besser getroffen werden. Und für alle, die sich irgendwann der Realität stellen müssen, keine Kinder bekommen zu können, hat sie Trost: "Die Aussichten, auch ohne Kinder langfristig ein glückliches Leben zu haben, sind sehr gut."

Marion Fischer akzeptierte ihre ungewollte Kinderlosigkeit. Mit ihrem Mann richtete sie sich ein Haus in München ein. Für den Garten kauften sie sich sogar ein paar Hühner. Als ihr Mann gerade an dem Hühnerhaus baute, geschah das, woran Marion Fischer schon nicht mehr geglaubt hatte: Sie hielt einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand. Ihr Wunsch nach einem Kind war in Erfüllung gegangen - zum Schluss ganz ohne medizinische Hilfe. Heute ist ihre Tochter vier Jahre alt.

Nie mehr Kinderwunschbehandlung: Ein zweites Kind wünscht sie sich nicht

In ihrer Therapie hat Marion Fischer gelernt, offen über ihre Kinderwunschzeit zu sprechen. Nach der Schwangerschaft holte sie der nicht aufgearbeitete seelische Schmerz ein. Dazu kam, dass ihre kleine Tochter Tag und Nacht schrie. Mit einer Depression und einem Burnout brach sie zusammen und ließ sich sechs Wochen lang in einer psychiatrischen Klinik behandeln.

Auch mit ihrem Mann habe sie nach der Schwangerschaft einige Probleme gehabt. Zwar sei ihre Beziehung in der Kinderwunschzeit gestärkt worden, doch etwas hatte sich geändert: "Wir mussten lernen, die Erotik wieder zuzulassen." Jahrelang hatten die beiden nur Sex rund um den Eisprung. Zweisamkeit einfach nur aus Lust, das mussten sie erst wieder üben.

Mit Ehemann und Tochter lebt Marion Fischer heute ein glückliches Familienleben in München. Sie weiß im Nachhinein: "Es war ein Fehler, vom Kinderwunsch so sehr mein Leben bestimmen zu lassen." Ein weiteres Kind möchte sie nicht mehr haben. "Nie mehr will ich diesen Druck ertragen." Dafür hat Marion Fischer eine neue Aufgabe gefunden. Als Kinderwunschcoach wird sie in Zukunft anderen Paaren durch die schwierige Zeit der Kinderwunschbehandlung helfen.

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