Süddeutsche Zeitung

Umgang der US-Medien mit Skandalen:Lachen und Lynchen

Im Land der Puritaner wird der öffentliche Umgang mit den privaten Affären prominenter Menschen immer zynischer. Der US-Politiker Anthony Weiner verschickte via Twitter Intimfotos an Frauen - und ist seit Bekanntwerden des Skandals Freiwild für die amerikanische Boulevardpresse.

Marc Felix Serrao

Den jüngsten Tiefpunkt in der an Tiefpunkten nicht armen Affäre um den amerikanischen Kongressabgeordneten Anthony Weiner und seine via Twitter an Frauen verschickten Intimfotos lieferte Mitte dieser Woche das Online-Portal TMZ. Ihr aktuelles Video über einen Chat-Kontakt des Politikers zu einer Pornodarstellerin illustriert die marktführende Klatschseite aus Hollywood mit wild rotierenden Hotdogs - eine wenig subtile Anspielung auf den Namen Weiner; "Wiener" steht im Englischen für Würstchen, ist aber auch Slang fürs männliche Geschlecht.

"Weiner Justiz! Weiner Betrug! Tiefer Weiner!", kräht die Stimme des Sprechers im Video aus dem Off, dazwischen sieht man eine nachgestellte und mit Musik unterlegte Redaktionskonferenz, in der sich die TMZ-Leute über den demokratischen Abgeordneten lustig machen.

Das kleine Würstchen von Twitter

Sie sind nicht die einzigen. So ziemlich jede amerikanische Late-Night-Show hat den Politiker schon durch den Kakao gezogen. Listen mit den "zehn besten Weiner-Witzen" rasen durchs Netz und werden auch von seriösen Medien amüsiert zitiert.

Weiner, der in der Demokratischen Partei bis vor kurzem als möglicher Kandidat für die nächste New Yorker Bürgermeisterwahl gehandelt wurde, hat in dieser Woche in einer tränenreichen Pressekonferenz eingeräumt, mit mehreren Frauen "unangemessen" via Twitter und Facebook und am Telefon kommuniziert zu haben.

Geholfen hat es nicht. "Weinergate" ging und geht munter weiter. Der 46-jährige Politiker, der sich zweifelsohne unangemessen verhalten hat, allerdings mit keiner seiner Chat-Partnerinnen ein reales Verhältnis hatte, ist in den USA für die meisten Kommentatoren nur noch eines: das kleine Würstchen von Twitter.

Man muss sich für diese schmuddelige kleine Geschichte nicht interessieren. Aber sie illustriert ziemlich perfekt, wie sich der öffentliche Umgang mit privaten Affären verändert hat - nicht nur, aber vor allem in den USA.

Das Land liebt und pflegt die öffentliche Skandalisierung ("public shaming") schon seit seiner Gründerzeit. Das rigide Moraldiktat der frühen Puritaner, wie es etwa von Nathaniel Hawthorne in Der scharlachrote Buchstabe beschrieben wird, ist zwar nicht mehr wirksam; dafür ist die Liste der prominenten Fehltritte schlicht zu lang, angefangen mit Thomas Jefferson und längst nicht endend mit Bill Clinton. Doch der Wille zum heilen Familienbild ist nach wie vor mächtig. Genau wie die Forderung nach dem Bußgang.

So gut wie jeder der unzähligen amerikanischen Politiker, Schauspieler oder Spitzensportler, die in den vergangenen Jahren mit Praktikantinnen, Prostituierten oder anderen Menschen, die nicht ihre Ehepartner waren, erwischt wurden, sah sich genötigt, im gedeckten Anzug und vor Kameras um Verzeihung zu bitten. Gerne mit der Ehefrau an der Hand und einem Zittern in der Stimme.

"Uns geht es heute nicht mehr wirklich darum, christliche Moralvorstellungen durchzusetzen, sondern darum, den immer größeren Hunger nach Celebrity-Geschichten zu stillen", sagt David Rosen. "Nichts finden die Leute so anziehend, wie einen Prominenten, der öffentlich weint." Der New Yorker Autor hat 2009 das Buch zum Thema geschrieben: Sex Scandal America: Politics and the Ritual of Public Shaming.

Rosen beschreibt eine auf den ersten Blick widersprüchliche Entwicklung. Einerseits, erklärt er am Telefon, werde der Tonfall amerikanischer Medien, vor allem im Internet und Fernsehen, immer "härter und respektloser". Andererseits fielen die praktischen Folgen moralischer Verstöße immer geringer aus. Selbst ein Politiker wie Newt Gingrich habe stets weitergemacht - trotz etlicher Affären, unter anderem mit einer 23 Jahre jüngeren Angestellten des Amerikanischen Repräsentantenhauses, die heute seine Frau ist. 2012 will sich der 67-Jährige sogar um die Präsidentschaft bewerben - für die Republikaner.

Auch in Deutschland gab es schon erste Versuche, mit der amerikanischen Abart des People-Journalismus Geld zu verdienen. Der Münchner Verleger Hubert Burda, der privat sehr auf Familiensinn achten soll, brachte 2010 das Online-Portal Vipdip ("lassen keine Dreckpfütze aus") und das Klatschheft Chatter ("Angelina Jolie lebt eine einzige Lüge") auf den Markt. Beide Produkte fielen durch eine quasi recherchefreie, im Ton dafür umso rabiatere Machart auf.

Doch was in den USA massenhaft verschlungen wird, kam in Deutschland nicht an. Beide, Vipdip und Chatter, sind schon wieder Geschichte.

Anders als Anthony Weiner. Der Politiker habe durchaus noch eine Chance, glaubt Autor David Rosen. Nicht auf den Bürgermeisterposten in New York, das sei "gelaufen". Aber auf eine Wiederwahl in den Kongress. Der vorgesehene Termin dafür ist der 6. November 2012. Reichlich Zeit, sagt Rosen. Bis dahin würden sich TMZ und die anderen "Fressrausch"-Medien, wie er sie nennt, längst neuen Opfern zugewandt haben.

Wer will, kann eine solche Prognose tröstlich finden. Für den Betroffenen bedeutet sie allerdings nicht weniger als den Verlust der persönlichen Würde für den Erhalt der öffentlichen Rolle. Menschen wie Weiner können ihre privaten Affären und Affärchen überstehen - wenn sie bereit sind, sich öffentlich erniedrigen zu lassen. Und das nicht, um daran mitzuwirken, eine irgendwie noch gültige christliche Moral zu stärken. Sondern als Futter. Als Würstchen, in das jeder mal ungefragt beißen darf.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1106654
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.06.2011/jobr
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.