Ultraläufe:Gehirndoping gegen Zweifel

Christian Schiester bereitet sich akribisch auf seine Ultraläufe vor - dabei entwickelt er schon mal einen kälteschützenden Aluminiumanzug oder stellt sein Trainingsrad in die Sauna.

Stephan Bernhard

Die Gestalt am Horizont ist nur von der Hüfte aufwärts zu erkennen, darunter verschwimmen ihre Umrisse in der flirrenden Hitze über der weiß leuchtenden Salzwüste. Quälend langsam kommt der einsame Läufer näher, als wäre jeder Schritt ein Kampf. Christian Schiester ist Teilnehmer 65 beim Atacama Crossing, einem 250 Kilometer langen Rennen durch die trockenste Wüste der Erde. "Alles brennt", beschreibt der Ultramarathonläufer das Erlebnis, "die Lungen vor Anstrengung, die Füße von den Blasen und die Augen vom Sand."

Ultraläufe: Extremläufer Christian Schiester kämpft mit unterschiedlichen Terrains und Temperaturen.

Extremläufer Christian Schiester kämpft mit unterschiedlichen Terrains und Temperaturen.

(Foto: Foto: Jürgen Skarwan)

85 Athleten sind mit Schiester Ende März in Chile an den Start gegangen, um die Strecke durch die Salzwüste zu bewältigen. Macht das Spaß? "Kein bisschen", antwortet Schiester sofort, "so ein Lauf ist ein einziger langer Schmerzzustand." Warum dann nicht einfach aufgeben?

"Niemals", erwidert er ebenso schnell. "Ein Jahr habe ich mich vorbereitet. Würde ich stehen bleiben, wäre alles umsonst gewesen. So eine Niederlage zu verarbeiten kostet genauso viel Kraft, wie in der Wüste die Überwindung weiterzulaufen."

Also läuft Schiester weiter, schließlich ist Laufen sein Beruf. Der 42-jährige Österreicher aus Mautern in der Steiermark bestreitet die härtesten Ultramarathons der Welt, 39 Stunden durch den Amazonas-Dschungel, 7000 Höhenmeter im Himalaja bergauf oder 100 Kilometer durch den Schnee der Antarktis.

Dabei ist er so gut, dass ihm Sponsoren inzwischen seine Leidenschaft finanzieren. "Jeder Mensch hat ein Talent, das er entdecken sollte, um sich zu verwirklichen", sagt Schiester. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Er läuft nicht nur bis zu 40 Stunden wöchentlich, sondern analysiert auch vor jedem Rennen mit wissenschaftlicher Genauigkeit welches Klima herrscht und welche Gefahren auf ihn lauern könnten.

Deshalb stellte Schiester auch schon ein Laufband in die Sauna und trainierte dort bei 60 Grad. Gehirndoping nennt er das. "Wenn ich in der Wüste bei 40 Grad starte, weiß ich, dass ich ganz andere Temperaturen aushalte. Das gibt mir die Sicherheit, dass ich dem Rennen gewachsen bin, andernfalls würde ich zweifeln - und wer zweifelt, hat verloren."

Lernen von den Beduinen

Schiesters Vorbereitung ist vielfältig: Von Beduinen lernte er, dass Datteln, Feigen und Hirse die ideale Kraftnahrung ergeben. Er fand auch einen der Wüste angepassten Laufstil: nicht zuerst mit den Zehen oder der Ferse auftreten, sondern immer mit der gesamten Fußsohle. So sank er weniger tief in den Sand ein - auch wenn er einer dahinwatschelnden Ente glich. Um sich auf die Kälte beim Antarctic Ultra Race einzustellen, lebte er tagelang in einer Eishöhle am Dachstein-Gletscher.

Er entwickelte einen Laufanzug aus Aluminium, der ihm das Aussehen eines Astronauten verlieh, aber selbst bei minus 30 Grad noch warm hielt. Dazu kamen Socken mit Mikrochips, die seine Hauttemperatur maßen und ihn warnen würden, falls Erfrierungen drohten. Außerdem steckte er seine Energieriegel so lange in die Mikrowelle, bis sämtliche Flüssigkeit verdampft war und sie nicht mehr gefrieren konnten. Aber dennoch wäre der Lauf in der Antarktis beinahe sein letzter geworden.

Als das Flugzeug die 21 Teilnehmer im Dezember 2007 absetzte und das Rennen zum 100 Kilometer entfernten Südpol startete, tobte ein Schneesturm über das Eis. Schiester ließ Zelt, Schlafsack und Kocher zurück - seine gesamte Notfallausrüstung.

"Ich wusste, dass ich es bei diesem Wetter nicht schaffen würde, das ganze Gepäck ins Ziel zu tragen. Ohne Ballast sah ich eine Chance. Es hätte allerdings nichts passieren dürfen, denn ohne Zelt wäre ich den Elementen bei minus 30 Grad schutzlos ausgeliefert gewesen."

Geist überlistet Körper

Schiester pokerte hoch und gewann - er kam als Einziger ins Ziel. Allerdings musste dazu sein Geist den Körper überlisten. "Nach 16 Stunden hatte ich einen Durchhänger und konnte nicht mehr. Da sah ich einen großen, weißen Vogel neben mir fliegen und dachte mir: wie wunderschön, du bist nicht alleine", erzählt Schiester. "Im Ziel habe ich erfahren, dass es hier gar keine Tiere gibt. Es war eine Halluzination, aber gleichzeitig eine gezielte Maßnahme meiner Psyche, mir wieder Mut zu machen."

Warum tut sich ein Mensch das an? Schiester verdankt dem Laufen sein Leben. Mit 20 Jahren wog er 100 Kilo, rauchte 40 Zigaretten pro Tag und spülte mit einigen Litern Bier nach. Selbst einen Stift vom Boden aufzuheben war eine fast unmögliche Aufgabe.

Dann erhielt er die Diagnose, dass er so keine 30 Jahre alt würde.18 Monate später lief er den New-York-Marathon. Seitdem sucht er immer neue Herausforderungen. Als Nächstes will er 250 Kilometer durch die Sahara laufen.

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