Mobbing unter Jugendlichen in der Ukraine:"Sollen wir alle sterben, ehe jemand etwas merkt?"

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Über Mobbing in der Schule haben Jugendliche in der Ukraine bisher kaum gesprochen. Eine TV-Serie hat jetzt ein Tabu gebrochen.

(Foto: Volker Preußer/Imago)

Fast nirgendwo in Europa ist das Problem des Mobbings unter Schulkinder so groß wie in der Ukraine, aber fast niemand sprach öffentlich darüber. Eine achtteilige TV-Serie hat nun das Tabu gebrochen.

Von Frank Nienhuysen

Das Mädchen ist 15. Es hat 15 Mal versucht, sich umzubringen. Ein Mädchen, das 15 Suizidversuche hinter sich hat, kann Alona Krywuliak nicht vergessen, auch nicht in der Flut Tausender Anrufe in den vergangenen Wochen. Krywuliak schreibt in ihrer E-Mail, der erste Anruf dieses Mädchens sei das "schwierigste Gespräch gewesen, seitdem ich arbeite". Krywuliak leitet in der Ukraine die Hotlines der Sozial-Organisation La Strada. Sie hat so viel Arbeit wie nie zuvor. Die ukrainischen Jugendlichen öffnen sich, seitdem kürzlich im Fernsehen eine Serie über Mobbing lief.

Acht Folgen zeigte der Sender Nowyj TV Ende des vorigen Jahres, "Pershi Lastivky" (frühe Schwalben) heißt die Serie. Sie hat die ukrainischen Teenager dermaßen angesprochen, dass mit ihr ein Tabu aufgebrochen ist. Mobbing in der Schule, Einschüchterung unter Jugendlichen, Gewalt, all das gibt es überall, in der Ukraine wurde darüber allerdings nur selten gesprochen. Kinder erzählten nichts, Eltern wussten angeblich von nichts. Gefährliche Stille. Und nun: "Hey, Eltern, öffnet endlich die Augen, oder sollen wir alle sterben, ehe jemand was merkt?", fragt in einer Folge einer der Hauptdarsteller.

Die UN-Organisation Unicef schätzt, dass die Ukraine eine der höchsten Mobbing-Raten unter Schulkindern in Europa hat. Zwei Drittel aller ukrainischen Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahren hätten Mobbing erlebt, fast ein Drittel sei selber Opfer geworden, von denen die Hälfte niemandem etwas erzählt hat. Den Freunden nicht, den Eltern nicht.

111 Selbsttötungen oder Suizidversuche

Unicef berichtete von "alarmierenden Zahlen, insbesondere in einer Zeit, in der die Ukraine einen Konflikt erlebt, in dem fast 1,6 Millionen Menschen vertrieben wurden, unter ihnen 220 000 Kinder". Flüchtlingskinder seien häufiger Gewalt ausgesetzt, erklärt Unicef, und wirtschaftliche Probleme würden sie noch härter treffen, ihr Mobbing-Risiko zusätzlich vergrößern. Im vergangenen Jahr registrierten die ukrainischen Behörden 111 Selbsttötungen oder Suizidversuche von Jugendlichen. Jedes siebte Kind, das sich das Leben nehme oder zu nehmen versuche, sei nicht mal zehn Jahre alt, berichtete die ukrainische Staatsanwaltschaft.

Yevhen Tunik, Autor und Produzent der Serie, hob nun die täglichen Dramen sichtbar für alle ins Fernsehen. Es geht etwa um: einen schwulen Teenager, eine Schülerin, die alkoholabhängige Eltern hat und selber ein Sprechproblem, um ein Mädchen, das Suizid begeht nach Mobbing-Attacken im Netz. "Wir wollten die Serie so realistisch wie möglich machen", sagte der Produzent in einem Interview mit der Nachrichtenseite Unian. Er beobachtete die Jugend, beriet sich mit Psychologen, Anwälten, kooperierte mit der Organisation La Strada und ließ zum Ende jeder Folge die Hotline-Nummer einblenden.

Seitdem erlebten die Pädagogen einen Strom von Hilfeanfragen. "Dieses Ausmaß haben wir uns nicht vorstellen können, die Sendung hat alle unsere Erwartungen übertroffen", schreibt Alona Krywuliak. "Allein nach den ersten Folgen erhielten wir mehr als 6000 Anrufe von Jugendlichen. Das sind fast so viele wie zuletzt in einem halben Jahr." Viele von ihnen hätten große Spannungen mit ihren Eltern, Drogenprobleme, verletzten sich selber. Immerhin, seit der Serie rufen sie jetzt an.

Und das Mädchen, das 15-jährige? "Es meldet sich jetzt regelmäßig bei uns, um Hilfe zu bekommen", schreibt die Soziologin Krywuliak. "Sie wurde in die Parallelklasse versetzt, weil sie in ihrer früheren gemobbt wurde. Sie geht zu einem Psychotherapeuten, und ihr Verhältnis zu den Eltern stabilisiert sich. Wir haben schon viel erreicht."

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