Süddeutsche Zeitung

Übergewichtige in Amerika:Die Lizenz zum Zunehmen

Kein Land ist fitter und keines fetter - wie die Dicken in den USA lernten, sich selbst zu lieben und die gesundheitspolitische Krise zu ignorieren.

Reymer Klüver

Leicht ist Sandy das Leben noch nie gefallen. Breitbeinig sitzt sie in ihrer taubenblauen Trainingsgarnitur auf der Ledercouch. Eine Stunde rührt sie sich nicht vom Fleck, die Beine immer gespreizt, weil ihre Oberschenkel so mächtig sind, dass sie die Knie gar nicht mehr zusammen bekäme. Ihre Arme sind merkwürdig abgewinkelt, wirken wie falsch aufgehängt, weil sie stets auf einem massiven Fettwulst ruhen, der ihren gewaltigen Leib breit umschließt.

Nur ihre kleinen, ringlosen Hände sind in Bewegung, wedeln ständig hin und her. Allein das Sprechen strengt sie so an, dass sie nach ein paar Minuten ein Kleenex aus der Vorratsbox auf dem Tisch reißen muss, um die Schweißperlen auf ihren Augensäcken fortzuwischen.

Sandy Schaffers Geschichte ist eine Allerweltsgeschichte. Dicke gibt es schließlich überall. Doch es ist auch eine sehr amerikanische Story, in mehrfacher Hinsicht. Sandy ist eine der neun Millionen ihrer Landsleute, die unter morbid obesity leiden, wie es in den USA heißt, einer derart massiven Fettleibigkeit, dass ein vorzeitiger Tod zwangsläufig erscheint. In den Vereinigten Staaten hat die Fettleibigkeit geradezu epidemische Züge angenommen.

Zwei Drittel aller Erwachsenen gelten inzwischen als übergewichtig, fast ein Drittel gilt als fettleibig. Das ist mehr als in jedem anderen Land der Welt. In Deutschland zum Beispiel leiden elf, zwölf Prozent aller Menschen an Adipositas, an Fettleibigkeit.

Weg von der Waage

Das, was Sandy in diesem winzigen Apartment einer Freundin, mitten im Weihnachtsglitzer von Manhattan, zu erzählen hat, ist so gesehen also eine eher banale amerikanische Geschichte. Eine Geschichte von körperlicher Qual und von seelischem Stress. Und dennoch ist Sandys Story nicht ganz so alltäglich, weil sie etwas gemacht hat, was in Amerika den Menschen ohnehin leichter fällt als im Rest der Welt: Sandy hat aus ihren Plagen eine Erfolgsgeschichte gemacht, jedenfalls für sich selbst. Denn nicht sie, sagt sie, ist krank, sondern die Gesellschaft, die Dicke wie sie für krank hält.

Sandy Schaffer, 47 Jahre alt, hat sich entschlossen, für diese Weltsicht zu kämpfen. Sie ist Vorsitzende der National Association for the Advancement of Fat People in New York, kurz Naafa genannt, die Vorsitzende der New Yorker Sektion des Vereins zur Förderung der Fetten in Amerika.

Man darf sie also ruhig fett nennen, muss das Unübersehbare nicht mit euphemistischen Umschreibungen verkleiden. Muss also nicht von Größe XXL schreiben, oder size advanced, von fortgeschrittener Größe, um die wahren Gewichtsverhältnisse darzustellen. "Fett war für mich immer nur ein unanständiges Wort, ein Schimpfwort", sagt Sandy Schaffer, "ich, wir haben es zurückerobert."

Damit meint sie Naafa, die Bewegung der Dicken, die 1967 mit einem so genannten ,,Fat-in'' im Central Park begann und seither wider die Diskriminierung übergewichtiger Menschen in Amerika streitet. Sandy meint aber auch ihren ganz persönlichen Kampf, ehe sie lernte, ihren fetten Körper als Teil ihrer selbst zu akzeptieren und nicht als feindliches Objekt zu malträtieren.

300 amerikanische Pfund, gut 135 Kilo, bringt Sandy Schaffer auf die Waage. Das heißt, so viel waren es, als sie sich das letzte Mal gewogen hat. Aber das ist schon Jahre her. Zu Hause hat sie keine Waage, und beim Arzt weigert sie sich, draufzusteigen. Sie will gar nicht wissen, wie schwer sie wirklich ist. "Es kommt nicht darauf an, ob man dick ist, sondern ob man gesund ist", sagt sie, "und ich bin gesund."

Sagt jedenfalls der Arzt, der ihren Blutdruck kontrolliert und ihre Cholesterinwerte, die im grünen Bereich sind. Aus der Tatsache, dass ihr die weiten Klamotten von vor zehn Jahren noch passen, schließt sie, dass sie seither nicht zugelegt hat. Aber selbst wenn man nur ihr Schätzgewicht zugrundelegt, dürfte der Body Mass Index der nicht gerade großen Frau jenseits der 40 liegen. Das ist der Bereich, den Amerikaner morbidly obese nennen, übergewichtig mit Todesgefahr. Übergewicht fängt bei 25 an.

300.000 Menschen, so die Schätzung der amerikanischen Gesundheitsbehörden, sterben jedes Jahr landesweit aufgrund ihres Leibesumfangs. Rein volkswirtschaftlich gerechnet kommen Menschen wie Sandy Schaffer den USA teuer zu stehen.

Auf 100 Milliarden Dollar werden die Extrakosten allein für die medizinische Betreuung fettleibiger Menschen geschätzt. 3,5 Milliarden Liter Benzin werden jedes Jahr zusätzlich verbraucht, weil die Amerikaner übergewichtig sind. Allein die Fluggesellschaften schätzen ihre Mehrkosten auf 275 Millionen Dollar - die Jets sind schwerer, als sie es mit normalgewichtigen Passagieren wären. Rechnungen wie diese machen Sandy Schaffer wütend.

Die Naafa hat vor vier Jahren zum Boykott von Southwest Airlines aufgerufen, weil die Fluglinie schwer übergewichtigen Passagieren zwei Tickets berechnete. Gegen Honda ging die Selbsthilfegruppe vor, weil sich die Autofirma weigerte, Zusatzgurte für Dicke herzustellen.

Schon mit drei Monaten, sagt Sandy Schaffer, wurde sie das erste Mal auf Diät gesetzt. Sie sieht das noch heute als frühkindliches Trauma, jedenfalls erwähnt sie es bereits beim ersten Telefonat. "Ich war dazu bestimmt, fett zu werden", sagt sie. Zumindest war es die erste von unzähligen, allesamt erfolglosen Abmagerungskuren.

"Meine Eltern haben mich bestochen, sie haben mich überredet. Mit zwölf hatte ich schon alles probiert: eine Protein-Diät, eine Joghurt-Diät, eine Bananen-Diät, eine Milk-Shake-Diät, Heilfasten, Weight Watchers, eine hochkomplizierte Drei-Stufen-Diät."

Ihre dunkle, brüchige Stimme ist laut geworden; noch ein Kleenex, sie muss sich erst beruhigen. Die Erinnerung an all den Stress, den man ihr, den sie sich selbst auferlegt hat, regt sie sichtbar auf. "Der Diätzwang hat bei mir zu nichts als Unglück und Krankheit geführt."

"Hoch das Knie"

Die Turnstunden in der Schule - und später die Fitness-Studios. Es war stets "Unterricht in Erniedrigung", wie sie bitter formuliert. Die Lehrer haben sie nicht vor der Lächerlichkeit beschützt, und noch immer hallt ihr das Kommando "Hoch das Knie, hoch das Knie" der Trainer im Ohr - und sie konnte einfach nicht mithalten. "Mir kam es so vor, als müsstest du fit sein, ehe du überhaupt im Fitnessstudio anfangen durftest."

Am Ende taten alle so, als wäre sie gar nicht im Raum, weil sie nicht wussten, was sie mit der Dicken machen sollten. "Und du willst nur noch eins sein: unsichtbar, gar nicht da."

Nur nicht auffallen. Tatsächlich ist es heute noch so, dass Sandy Schaffer ihren massigen Körper nicht betont. Schmuck scheint ihr eher lästig zu sein. Die Kleidung muss in erster Linie bequem sein: Sie trägt Trainingsanzug und Turnschuhe. Die dunklen Haare sind schlicht und auf praktische Schulterlänge geschnitten. Allein einen dunklen, in der abendlichen Beleuchtung des Apartments kaum sichtbaren, Lippenstift hat sie aufgelegt.

Für Sandy Schaffer kam die Wende vor neun Jahren. Da hatte sie einen neuen Job, bei dem sie nur noch sitzen musste. Sie legte auf 370 Pfund zu, kam kaum noch die Treppen in den vierten Stock zu ihrem Apartment im Norden Manhattans empor, so sehr geriet sie dabei außer Atem. Sie fürchtete, dass sie aus Angst, am Abend nicht mehr hoch zu kommen, eines Tages ihre Wohnung einfach nicht mehr verlassen würde.

Sandys Leben hätte zu einer jener Geschichten zusammenschnurren können, an deren Ende dann Meldungen stehen von Menschen, die von der Feuerwehr mit dem Kran aus ihrer Wohnung gehoben werden müssen, weil sie anders nicht herauskommen.

Sandy ist herausgekommen. "Ich habe mein Leben in die Hand genommen", sagt sie. Sie wurde Naafa-Sprecherin in New York, tritt seither so oft im Fernsehen auf, dass ihre Mutter, die ihr das Dicksein austreiben wollte, ganz stolz ist. Sie droht Magazinen der Magerkeits-Fetischisten wie Vogue schon mal mit Protestmärschen auf dem Times Square und organisiert im Sommer regelmäßig Badetouren für Dicke an den Strand von Brighton vor den Toren New Yorks.

Und sie hat etliche Pfund, immerhin, abgenommen. Hat ein Fitness-Studio in Manhattan gefunden nur für dicke Menschen, hat selbst eine Ausbildung absolviert und ist seit sieben Jahren einer der heute vielleicht 25 vom American Council of Exercice offiziell beglaubigten fettleibigen Fitnesstrainer in den ganzen USA. "Ich habe einfach aufgehört, darauf zu hören, dass dünn sein besser ist", sagt sie. "Ich bin fit geworden im Einklang mit meinem Körper." Fit und fett.

Doch Fettleibigkeit bleibt ein Risikofaktor, selbst wenn man sich körperlich bewegt wie Sandy Schaffer, sagt etwa JoAnn Manson, eine Medizinprofessorin, die sich in Harvard auf die Behandlung von Diabetes spezialisiert hat, eine der häufigsten Folgekrankheiten von Übergewicht. "Natürlich ist fit und fett besser als nicht fit und fett", sagt sie. "Aber man wird noch viel gesünder sein, wenn man ein gesundes Gewicht hat."

Auf der anderen Seite gibt es eine Studie, im angesehenen Journal of the American Medical Association veröffentlicht, derzufolge Frauen, die fett und fit sind, ein geringeres Risiko haben, an Herz- und Gefäßleiden zu erkranken, als dünne, aber bewegungsarme Frauen.

Auch Morgan Downey muss sich spürbar zusammenreißen, wenn er Schaffers Credo hört, dass fett und fit sein zusammenpassen. Nicht, dass er etwas gegen Dicke hätte. Im Gegenteil, auch er versteht sich als ein Vorkämpfer für die Rechte übergewichtiger Menschen. Seit fast zehn Jahren ist er Geschäftsführer der American Obesity Association, AOA, der wohl größten der Lobbygruppen, die sich für die Belange fettleibiger Menschen in den Vereinigten Staaten einsetzen.

Aber er warnt davor, die Gefahren von Adipositas herunterzuspielen. Es waren die Zahlen des Surgeon General, des obersten Arztes der Nation, die Mitte der neunziger Jahre zur Gründung der Organisation geführt haben, als die besorgniserregende Entwicklung in den USA absehbar war. Nicht nur, dass sich von Mitte der siebziger Jahre an innerhalb eines Vierteljahrhunderts der Bevölkerungsanteil der Übergewichtigen von 46 auf 64,5 Prozent erhöhte. Vielmehr nahm die Zahl der im Wortsinne schweren Fälle exorbitant zu. Der Anteil der Fettleibigen verdoppelte sich von 14,4 auf 30,5 Prozent aller Amerikaner.

Eine wirkliche Erklärung für das Paradox, dass ausgerechnet diese Gesellschaft, die wie keine andere Fitness und körperliches Idealmaß propagiert, die mit Abstand meisten übergewichtigen Menschen in aller Welt produziert, hat auch er nicht. "Wissen Sie", sagt Downey und holt weit aus, als könne er so die Komplexität der Situation deutlich machen, "es hat sich so viel verändert in den letzten Jahrzehnten."

Er zählt auf: Umwelteinflüsse, die bessere medizinische Versorgung, kürzere Stillzeiten der Mütter, der steuerbegünstigte Siegeszug von Maissirup als Süßstoff in industriell gefertigten Nahrungsmitteln.

Die Liste könnte er ohne weiteres fortsetzen. "Das alles hat sich zu einem Teufelsgemisch zusammengebraut in einer Bevölkerung, die genetisch dazu veranlagt ist, größer und schwerer zu werden", sagt Downey und fügt hinzu: "Nur, dass die Menschen viel schneller an Gewicht zulegen, als dass sie größer werden."

Hin zum Fett

Und doch hat die Gesundheitspolitik in den USA bisher nicht angemessen auf die neue amerikanische Volkskrankheit reagiert. "Die Medizin hat Adipositas bisher nicht als wichtiges Spezialgebiet identifiziert", sagt Morgan Downey, "Ärzte zweifeln, ob eine Spezialisierung darin karrierefördernd ist."

Auch die National Institutes of Health (NIH), das gigantische nationale biomedizinische Forschungszentrum der USA, sind nicht wirklich Vorreiter. Sie haben sechs Dringlichkeitskriterien für die Verteilung ihrer immensen Mittel entwickelt, jährlich immerhin mehr als 15 Milliarden Dollar. Doch obwohl Adipositas als Krankheit alle sechs Kriterien erfüllt, bekommt sie nicht einmal ein Prozent aller Mittel. "Wo immer man hinguckt - Forschung, Erziehung, Vorbeugung, Behandlung, Verbraucherschutz -, überall im Gesundheitsbereich wird Fettleibigkeit als Stiefkind behandelt", klagt der Arzt Richard Atkinson, einer der Gründer der AOA.

Und das, obwohl Studien der NIH belegen, dass sich die Lebenserwartung der Amerikaner in den kommenden Jahrzehnten um bis zu fünf Jahre reduzieren dürfte, wenn nicht mehr gegen den Trend zur Fettleibigkeit getan wird.

Selbst die Lobby der Dicken, die Naafa, leugnet nicht, dass es eine "Adipositas-Krise" in den USA gibt, sagt Sandy Schaffer. Doch ist für sie nicht die Fettleibigkeit als solche das Problem: "Die Krankheit ist ein ungesunder Lebensstil."

Wenn alle, auch die Dicken, mehr Sport treiben würden, wären alle gesünder - eben auch die Dicken, so die Logik Schaffers und ihrer Freunde. "Wir sind eine bewegungsarme Nation", sagt sie, und man merkt, dass dies ihre Standardargumentation für ihre öffentlichen Auftritte ist. "Wenn wir mehr in Parks, Spielplätze und Schulhöfe investieren würden, wäre schon viel gewonnen."

Doch darf man wirklich so tun, als sei nicht Dicksein das Problem, sondern die Vorurteile einer Gesellschaft, die Dünnsein zum Kult erhoben hat und ungleich mehr Ressourcen in Diäten steckt als etwa in die Gestaltung öffentlicher Spielflächen? "Sind wir als Nation gesünder geworden?", fragt Sandy Schaffer. "Ich habe früher so gelebt, wie die Gesellschaft es erwartet, und mir ging es schlecht. Warum leben wir nicht so, wie ich jetzt lebe? Ich bin gesund."

Dann steht Sandy Schaffer auf. Dazu drückt sie beide Hände auf ihre Oberschenkel, verlagert ihr Gewicht auf Füße und Waden, presst ihren Leib nach oben. Gut, ein bisschen außer Atem kommt sie schon. Aber Sandy stemmt es - wie alles im Leben.

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Quelle:
SZ vom 27.12.2006
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