Übergewicht gesünder als Idealgewicht:Das dicke Ende

Leichtes Übergewicht ist offenbar gesünder als das vielgerühmte Normal- oder Idealgewicht - riskant wird es erst bei ausgeprägter Fettsucht.

Werner Bartens

Eigentlich müsste man den Begriff Übergewicht streichen - oder umbenennen in Idealgewicht. Was Menschen mit Bauchansatz und Hüftgold schon lange ahnten, bestätigt nun die Wissenschaft: Wer geringes bis mittleres Übergewicht auf die Waage bringt, lebt am längsten und ist am wenigsten anfällig für Krankheiten.

Übergewicht besser als Idealgewicht, iStockphotos

Manchmal soll man Äpfel mit Birnen vergleichen, etwa wenn es um die Art der Fettleibigkeit geht. Dicke mit viel Bauchfett (Apfelform) haben ein größeres Infarktrisiko als Menschen mit Hüftspeck (Birnenform).

(Foto: Foto: iStockphotos)

Kein fülliger Mensch muss sich mehr mit Ausreden wie "schwere Knochen" oder "guter Futterverwerter" seine laut Statistik überflüssigen Pfunde schönreden. Er kann aus medizinischer Sicht statt dessen stolz darauf sein. Die Gefahr, an diversen Leiden zu erkranken, steigt erst mit erheblichem Übergewicht, das Mediziner - je nachdem, wie vornehm sie sein wollen - als Fettleibigkeit oder Adipositas bezeichnen. Wer richtig dick ist, hat eine kürzere Lebenserwartung.

Aus all dem folgt: Schluss mit dem ständigen Gerede über die Idealfigur. Ein wissenschaftlich bewiesenes Gesundheitsrisiko besteht erst dann, wenn jemand deutlich zu dick ist - oder aber auch zu dünn. "Wenn sie sich gut fühlen, sich einigermaßen regelmäßig bewegen und ihr Doktor mit ihren Labor- und anderen Untersuchungsergebnissen zufrieden ist, weiß ich nicht, warum sie überhaupt ihr Gewicht ändern sollten", empfiehlt der Arzt und Epidemiologe Mitchell Gail von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA in Bethesda.

Da die Wahrnehmung von Gewichtsproblemen subjektiv ist, wurden Grenzwerte festgelegt. Die Einteilung in Normal- und Idealgewicht nach dem Broca-Index gilt als veraltet. Dabei werden von der Größe in Zentimetern 100 abgezogen und ergeben das Normalgewicht. Bei 180 Zentimetern Größe entspräche das 80 Kilogramm. Das Idealgewicht läge um zehn Prozent darunter, in diesem Fall bei 72 Kilogramm. Die Formel wurde immer wieder variiert, je nachdem ob Männer oder Frauen beurteilt werden sollten.

Mittlerweile wird das Gewicht zumeist nach dem Body-Mass-Index (BMI) eingeteilt. Er errechnet sich, indem das Gewicht durch die ins Quadrat genommene Körpergröße (in Metern) geteilt wird. Bei 1,80 Meter Größe und 80 Kilogramm Gewicht liegt der BMI bei 24,7. Die Weltgesundheitsorganisation definiert vier Kategorien: Von Untergewicht sprechen Mediziner bei einem BMI unter 18,5. Liegt der BMI zwischen 18,5 und 24,9, gilt dies als Normalgewicht. Als Übergewicht gelten BMI-Werte zwischen 25 und 29,9. Ab einem BMI von 30 ist dann von Adipositas, das heißt von Fettleibigkeit die Rede.

An diesen Maßstäben wurde immer wieder Kritik laut, denn Ärzte wissen, dass fitte Dicke gesünder sind als schlappe Schlanke. Außerdem werden Körperbau und Trainingszustand zu wenig berücksichtigt, wird nur der BMI betrachtet. Schließlich ist belegt, dass ein Speckring um den Bauch ("Apfelform") das Risiko für Gefäßverkalkung und Infarkt stärker erhöht als eine ähnlich große Fettdemonstration an der Hüfte ("Birnenform"). Bei einer Größe von 1,90 Meter würden schon 91 Kilogramm als Übergewicht gelten, ab 109 Kilogramm bestünde Fettsucht. Für 1,80 Meter Größe läge die Spanne des Übergewichts zwischen 81 und 98 Kilogramm, bei 1,70 Metern zwischen 73 und 87 Kilogramm.

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Das dicke Ende

Vom Nutzen der stillen Reserve Die Gesundheitsrisiken durch erhöhtes Gewicht werden von Laien wie Medizinern zwar immer wieder beschworen. Doch die wissenschaftlichen Belege dafür sind uneinheitlich. In den vergangenen Tagen sind gleich mehrere umfangreiche Studien erschienen, in denen der Einfluss des Gewichts auf verschiedene Krankheiten untersucht wurde.

Forscher der Gesundheitsinstitute der USA (NIH) werteten Erhebungen aus, die von 1971 bis 2004 mehr als 2,3 Millionen Erwachsene umfassten. Ihr Fazit Anfang November: Menschen mit Übergewicht leben am längsten (Journal of the American Medical Association, Bd.298, S.2028, 2007). "Die Sterblichkeit war bei Untergewicht und Fettsucht erhöht", sagt Katherine Flegal, Hauptautorin der Studie. "Unter den Übergewichtigen gab es jedoch weniger Todesfälle als unter den Normalgewichtigen."

Die Autoren geben verschiedene Gründe an, warum Menschen mit Übergewicht länger leben als die Ranken und Schlanken: Mollige erholen sich offenbar schneller von Operationen, sind weniger anfällig für Infektionen und bei manchen Krankheiten ist ihre Prognose besser. "Vielleicht liegt es daran, dass Übergewichtige mehr Nahrungsreserven und mehr Muskelmasse haben", spekuliert Flegal. Allerdings würden die Auswertungen ergeben, dass die Gesundheitsrisiken ab einem BMI von 29 oder 30 stark ansteigen. Bei Menschen mit Fettsucht erhöht sich besonders die Sterblichkeit aufgrund von Herzinfarkten und Schlaganfällen - nicht aber durch Krebs.

Britische Daten zeichnen für Krebs ein anderes Bild. In Großbritannien wurden Teile der Million Women Study ausgewertet. Etwa 1,2 Millionen Frauen zwischen 50 und 64 Jahren wurden von 1996 bis 2001 erfasst und drei Jahre später erneut befragt. Die vergangene Woche veröffentlichten Daten zu Gewicht und Krebs zeigen, dass mit einem stark erhöhten BMI ab 30 das Risiko für Tumore ansteigt (British Medical Journal, online). Dies galt besonders für Krebs der Speiseröhre, Gebärmutter, Nieren, Bauchspeicheldrüse, des Dickdarms, sowie für Leukämien und Lymphome.

Das Krebsrisiko übergewichtiger Frauen wird davon beeinflusst, ob sie vor oder nach den Wechseljahren stehen - hohes Gewicht vor den Wechseljahren scheint vor Krebserkrankungen zu schützen. Zwar sind Tumore wie Lungen- oder Magenkrebs bei dicken Frauen seltener. Die Gesamtbilanz der britischen Studie zeigt allerdings, dass das Risiko für zehn von 17 Tumorarten mit dem Gewicht steigt. "Unsere Daten ergeben, dass fünf Prozent der Krebsfälle bei Frauen nach den Wechseljahren auf Übergewicht zurückgehen", sagt Gillian Reeves von der Universität Oxford. "Das entspricht in Großbritannien 6000 Krebserkrankungen jährlich."

In Großbritannien liegt der BMI Erwachsener bei durchschnittlich 27. Etwa 34Prozent der Frauen sind übergewichtig, 23Prozent fettleibig. Wie dick die Deutschen derzeit sind, ist unklar. Das statistische Bundesamt ermittelte, dass 58 Prozent der deutschen Männer übergewichtig sind und 42 Prozent der Frauen. Nach einer im Frühjahr veröffentlichten Studie sind die Deutschen die dicksten Europäer. Demnach wären 52,9 Prozent der Männer und 35,6 Prozent der Frauen in Deutschland übergewichtig. Fettleibig sind weitere 22,5 Prozent der Männer und 23,3 Prozent der Frauen.

Diese Daten wurden allerdings kritisiert, weil sie angeblich nicht dem neuesten Stand entsprachen und Vergleichsdaten aus anderen Ländern veraltet waren. Neue Erkenntnisse bietet die zweite Nationale Verzehrstudie, die 2005 und 2006 die Nahrung und das Gewicht im Lande repräsentativ erfasst hat. Ergebnisse werden aber erst in wenigen Wochen bekanntgegeben.

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