Überflüssige Kleidung:Der traurige Rest

Manchen fehlt ein Knopf, anderen ist vielleicht der Saum gerissen. Sie haben Make-Up-Flecken oder wurden umgetauscht. Diese Kleider wandern bei den meisten Modelabels in die Mülltonne - warum eigentlich?

Miriam Stein

Am 5. Januar 2010 löste ein Artikel in der New York Times Empörung aus. Eine New Yorker Studentin hatte in einer Mülltonne hinter der H&M-Filiale in der 34. Straße brandneue, mutwillig zerstörte Kleidungsstücke gefunden. Ein knappes Jahr später eine ähnliche Szene, auf der 14. Straße: Der Journalist Alex Pasternack entdeckt neben den Mülltonnen des US-Modelabels Urban Outfitters Kartons voller leicht beschädigter, aber funktionstüchtiger Accessoires - und beschreibt dies auf der US-Website Treehugger.com.

Sommerschlussverkauf gestartet

Breton-Shirts und Neon-Jeans? Sind längst weg. Was sich nicht verkauft, wird weiterverkauft, gespendet oder gleich zerstört.

(Foto: dpa)

Ende April 2011 deckt die US-Zeitung The Tampa Tribune auf, dass das amerikanische Unterwäschelabel Victoria's Secret alle Sachen zerstört, die von Kunden zurückgebracht werden: Ein Mitarbeiter hatte eine neue Jogginghose vor den Augen einer Kundin mit einer Schere zerstört. Auf Anfrage der Zeitung gab der Konzern zu, dass Mitarbeiter angewiesen sind, zurückgegebene Ware zu zerstören - allerdings nicht vor den Augen der Kundschaft.

Seither ereignen sich in den USA immer wieder Mode-Müllskandälchen, die ehemalige Angestellte in Internetforen bestätigen. Auch Wal-Mart geriet massiv in die Kritik. Was passiert bei uns mit den Teilen, die, nach dem Ende des Sommerschlussverkaufs, bei H&M und Zara übrigbleiben? Oder - bei Prada und Chanel?

Berlin, Friedrichstraße, im Juli 2011. Auf der Suche nach den Entsorgungsstrategien führender internationaler Modeketten begegnen wir dem ersten Problem: Die deutsche Ordnung macht das "Containern" schwierig, die hiesigen Filialen haben keine frei zugänglichen Müllhöfe wie in New York. Die großen Tonnen, die morgens zu den Abholwagen gezogen werden, sind verschlossen, genau wie die Müllsäcke, die aus den Containern in den Abfallwagen fallen. Hier und da gucken Plastikkleiderbügel aus den Beuteln, aber die reichen nicht einmal als Indiz aus.

Dann werden die leeren Container wieder in ihre Abfallkammern oder abgesperrten Müllhöfe geschoben und verschwinden aus der Öffentlichkeit. Was sich genau in den schwarzen Säcken befindet, wissen also nur diejenigen, die mal einen Abfallsack befüllt haben. "Ich habe drei Jahre bei H&M gearbeitet", erzählt eine ehemalige Angestellte der schwedischen Modekette. "Zwar haben wir nie ganz neue Ware weggeworfen, aber beschädigte Ware landet schon im Mülleimer." Mitarbeiter seien angewiesen, kaputte Stücke -"kaputt" heißt bei H&M: Teile mit ausgerissenen Säumen, abgerissenen Knöpfen, geplatzten Nähten - unkenntlich zu machen und dann wegzuwerfen.

Was ist üblich?

Die offizielle Erklärung liest sich ein klein wenig anders. Nach dem Vorfall in New York im vergangenen Jahr entschuldigte sich der Konzern und erklärte, diese Vorgehensweise sei nicht üblich. Was ist denn üblich? Pressesprecherin Tanja Hussenether sagt: "H&M spendet Kleidung zu wohltätigen Zwecken. Kleidung, die nicht H&Ms Qualitätsanforderungen entspricht, gelangt nicht in die Geschäfte. In den meisten unserer Verkaufsländer haben wir Vereinbarungen mit seriösen Hilfsorganisationen - UNHCR, Caritas, Rotes Kreuz und Helping Hands. Wir spenden jedoch niemals Kleidung, die nicht unseren Sicherheitsanforderungen und Chemikalienrestriktionen entspricht oder die beschädigt ist. 2009 haben wir mehr als 500 000 H&M-Kleidungsstücke gespendet." Diese Standard-Antwort schickte der schwedische Modegigant auch an die Leser der New-York-Times-Geschichte, die sich nach der Veröffentlichung beim Konzern beschwert hatten.

Und wie geht die Modekette Zara mit beschädigten Einzelteilen um? "Die Artikel werden von uns für verschiedene industrielle Zwecke recycelt", erklärt eine Pressesprecherin. Doch auch eine ehemalige Zara-Mitarbeiterin erzählt von unverkauften, kaum beschädigten Einzelteilen, die weggeworfen werden. "Die Filialen bearbeiten ziemlich große Mengen von Kleidungsstücken. Da wäre es zu aufwendig, jedes Hemd mit Lippenstiftspuren oder angerissenen Knöpfen zurückzuschicken."

Stattdessen werden die Teile zerschnitten und weggeworfen. Waren die Kleidungsstücke denn noch tragbar? "Nach einer kleinen Reparatur oder Reinigung bestimmt", antwortet die Verkäuferin. Aber es würde einfach an Zeit und Personal fehlen, diese Mängel zu beheben. Größere, unverkaufte Mengen werden allerdings an die Konzernzentrale zurückgeschickt. Laut der PR-Abteilung von Zara werden diese Teile ins "Reselling" verkauft, also in Ländern vertrieben, in denen Zara keine Filialen hat. Die spanische Marke ist mittlerweile in mehr als 72 Ländern auf allen fünf Kontinenten vertreten.

Angst vor Plagiaten

Es sind aber nicht nur Massenmodeketten, die unverkaufte Kleidung zerstören. Seit Jahren hält sich mit erstaunlicher Hartnäckigkeit das Gerücht, das französische Luxushaus Chanel ließe nicht verkaufte Handtaschen nach einem Jahr verbrennen - aus Angst vor Plagiaten. Bestätigt wurde dies von offizieller Seite nie. Auch eine Anfrage in Paris für diesen Text blieb unbeantwortet.

Der Faktor, der die Entsorgung fast neuer Kleidung intern rechtfertigt, ist die Produktionsmenge. Das Konzept der High-street-Labels beruht auf der Idee, ständig neue, aktuelle Trends auf den Markt zu bringen. Entsprechend hoch sind die Produktionszahlen. Genaue Angaben über den Umfang geben weder Zara noch H&M bekannt, die Zahl lässt sich aber erahnen: In einer Zara-Filiale hängen etwa 10 000 Entwürfe pro Kalenderjahr, multipliziert mit der Herstellungsmenge für den Bedarf von mehr als 1000 Filialen. Nicht unwahrscheinlich, dass diese Zahl mit einem gewissen Überschuss kalkuliert wird, und dass die Kleider, Accessoires und Schuhe, die am Ende übrigbleiben, nicht nur für wohltätige Zwecke gespendet werden.

Viele Unternehmen fürchten auch, dass gespendete Kleidung auf dem Schwarzmarkt verkauft wird. Mary Lanning, Vorsitzende der "Clothing Bank", einer Wohltätigkeitsorganisation in New York, hat dagegen eine Methode entwickelt: "Wir machen die Logos unkenntlich. Das beeinträchtigt die Tragbarkeit der Kleidung nicht, macht die Teile für den Schwarzmarkt aber wertlos."

Kleinere Modelabels haben kein Problem mit überschüssiger Ware: Hier fällt sie erst gar nicht an. Einkäufer von Boutiquen machen ihre Bestellungen in den Showrooms während der Präsentationen anhand der Musterkollektion. Zu diesem Zeitpunkt ist die Produktion noch nicht in Serie gegangen, fertiggestellt werden nur die bestellten Stücke. Unverkaufte Einzelteile bleiben so meistens in der Verantwortung der Großhandelskäufer.

Nelly Hemmann, Pressesprecherin der Berliner Galeries Lafayette, erklärt: "Es gibt die Retourmöglichkeit bei einigen Marken. Ab einem bestimmten Datum haben wir die Möglichkeit, die Ware frei zu reduzieren." Bleiben kleinere bis mittelgroße Modemarken selbst auf Einzelstücken sitzen, werden diese entweder in speziellen Sample-Sales für Mitarbeiter verkauft - oder unkenntlich gemacht und weiterverwendet oder verschenkt.

Eine andere beliebte Option ist seit jeher das Outlet, der Discounter für Saisonware und beschädigte Einzelstücke. Immer mehr Modehäuser haben ihre eigene Schnäppchenläden - wie im Ingolstadt Village -, oder verkaufen ihre Restbestände in Outlets wie Schustermann & Borenstein. Natalie Massenet, Chefin des Online-Nobelkaufhauses Net-a-porter, betreibt seit einiger Zeit den Internetshop Theoutnet.com, "the most fashionable designer outlet": Die dort feilgebotene Prêt-à-Porter-Mode stammt aus der letzten oder vorletzten Saison - und ist mitunter um bis zu 70 Prozent reduziert. Ob und unter welchen Umständen unverkaufte Stücke hier irgendwann im Müll landen, bleibt offen.

Es gibt aber auch Marken, die sich schwer von Altem trennen können. Im Prada-Outlet in Montevarchi, Toskana, darf der Besucher rätseln, aus welchen dunklen Jahren des Modehauses die angebotenen Artikel stammen. Jedenfalls nicht aus den letzten zehn Saisons.

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