Trendsport Base-Jumping:Die Sucht zu springen

Sie stürzen sich von Brücken, Felsvorsprüngen und Fernsehtürmen. Und sind doch nicht lebensmüde. Hajo Schirber sprang bereits, als der Sport noch illegal war, und weiß um die Gefahren.

Mirja Kuckuk

Sie haben gewartet, bis es dunkel wurde. Dann haben sie ihre Sachen gepackt und sind losgefahren. Zur Autobahnbrücke, irgendwo in Baden-Württemberg, und sind gesprungen. Sie, das waren immer die anderen, die Pioniere. Eines Abends aber war es soweit, das Telefon klingelte. "Heute darfst du springen. Bist du bereit?" Ja, er war bereit. Seit zwei Jahren fieberte Hajo Schirber diesem Moment entgegen. Die eingeschworene Gemeinschaft der Baser ließ ihn springen.

Base-Jumping; Katja Lenz

Der Traum vom Fliegen wird für viele Fallschirmspringer erst beim Basen wirklich wahr.

(Foto: Foto: Katja Lenz)

Base steht für Buildings (Gebäude), Antennas (Antennen), Spans (Brücken) und Earth (Felsen). Sie sind die Herausforderungen eines "Basers". Die meisten dieser Extremsportler sind ausgebildete Fallschirmspringer, den Sprung aus dem Flugzeug wagen sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Sprung von einem Base-Objekt aber erfordert anderen Mut.

Hajo Schirber ist hundertfach auf 10.000 Meter Höhe ausgestiegen. Er ist Formationen gesprungen, hat Salti geschlagen und dann den Fallschirm gezogen. Nun darf er auf die Brücke. Sein Mentor, Hannes, gibt ihm grünes Licht. Sie sind zu dritt, wie immer, wenn ein "Novize", ein Neuling, springen darf. Seinen Schirm hat er sorgfältig gepackt. Das hat er immer wieder geübt in den zwei Jahren, in denen er die Baser zu ihren Sprüngen gefahren und sie beobachtet hat.

"Tu's nicht, du kannst noch zurück!"

Jetzt klettern sie vor zum "Exit", der Absprungstelle. Einer macht die Vorhut, Hajo schaut ihm nach. Der Sprung in gut 100 Meter Tiefe verläuft sauber. Hannes gibt noch einmal mentale Sicherheit: "Dein Schirm ist richtig gepackt. Bist du auch bereit?" Ja. Hajo tritt vor und springt. Der Boden rast auf ihn zu, zwei, drei Sekunden lang, dann zieht er die Leine, es macht einen Ruck, der Schirm reißt ihn hoch aus der Bauchlage, er segelt zu Boden. Als er hochblickt, sieht er auch schon Hannes landen und ist einfach nur erleichtert. Und stolz, denn er hat ihn besiegt, den kleinen Teufel, der flüstert: "Tu's nicht! Noch kannst du zurück!"

Wenn der 44-Jährige von seinem ersten Base-Jump erzählt, dann so, als wäre es gestern gewesen. Anfang der neunziger Jahre stand er auf besagter Brücke und die Stimme von damals begleitet ihn heute noch. Denn obwohl Schirber bis zu 60 Sprünge jährlich absolviert, hat er nach wie vor großen Respekt vor dem Extremsport. Das führt so weit, dass er noch immer nicht verrät, von welcher Brücke er damals gesprungen ist: "Über das Wann und Wo hat man nie offen gesprochen. Es war ja verboten." Seit seinem ersten Sprung, mit dem er endlich in die Baser-Gemeinschaft aufgenommen wurde, hängt der Nürnberger "an der Nadel".

Seiner Sucht kann Schirber mittlerweile ganz legal nachgehen - doch dafür mussten die Baser lange kämpfen. Um derlei nächtliche Mutproben vom Gesetzgeber legitimieren zu lassen, bedarf es in Deutschland eines eingetragenen Vereins. Deshalb gründeten Schirber und die deutschen Base-Pioniere vor nunmehr zehn Jahren den Verein Deutscher Objektspringer. Der VDO entwickelte ein Regelwerk für das, was bislang "von Medizinmann zu Medizinmann" weitergereicht wurde. Und er führte teure Materialtests durch, um die Ausrüstung Tüv-tauglich zu machen. Sprangen die ersten Base-Jumper noch mit Jeans und T-Shirt, tragen sie heute spezielle Anzüge. Die Industrie stellt für bis zu 3000 Euro Schirme bereit, die die Belastungen der Kurzsprünge aushalten.

Wer heute einen Base-Sprung wagen will, kann sich an den Verein von Schirber wenden, um sich einweisen zu lassen. Die Huber-Brüder, die die steilsten Bergwände hochklettern, stehen am Ende an den idealen "Exits". Sie ließen sich schließlich die Sprungtechnik erklären, um den lästigen Abstieg zu beschleunigen. Wer keinen "Huber Buam"-Sonderstatus vorweisen kann, muss eine Fallschirmspringerlizenz mitbringen und mindestens 200 Flächensprünge absolviert haben, bei denen er auf einer Fläche von 20x20 Meter gezielt gelandet ist.

Nicht zuletzt muss die Motivation stimmen. "Einmal wollte ein selbständiger Unternehmer von mir eingewiesen werden, dessen Frau gerade das zweite Kind erwartete. Ich habe ihn sehr hartnäckig nach seiner Motivation gefragt, denn ich hatte das Gefühl, dass er sich einfach noch mal etwas 'beweisen' wollte." Schirber schilderte dem Mann alle Risiken, die ein Sprung in sich birgt. "Mit den coolen Videos, die im Internet kursieren und die suggerieren, das alles sei ein Kinderspiel, hat Basen wenig zu tun." Schnell kann es zu gröberen Verletzungen kommen. Wer bei der Landung zu hart mit dem Fuß aufschlägt oder versehentlich in einem Baum landet, riskiert gebrochene Knochen und wochenlangen Arbeitsausfall. Das ist selbst einem erfahrenen Baser wie Schirber schon passiert.

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Die Sucht zu springen

Der Tod springt mit

Der Unternehmer sprang am Ende nicht. "Das ist für mich auch ein Zeichen von Stärke. Denn etwas anderes ist Basen nicht: Verantwortung für sein Handeln zeigen." Deshalb blickt Schirber stolz auf zehn nahezu unfallfreie Jahre in Deutschland seit Gründung des VDO zurück.

Im Ausland sieht das mitunter anders aus. In Frankreich, Italien, Norwegen und der Schweiz ist es sehr viel leichter, zum Springen zugelassen zu werden. Jeder darf sich vom Berg stürzen, wo er möchte, denn die Springer verletzen damit - anders als in Deutschland - das Luftrecht nicht. Für Laien werden Crashkurse im Springen angeboten, nach drei Tagen steht man oben auf dem Felsen und "fliegt". Das Mekka internationaler Springer ist das Schweizer Lauterbrunnen. Direkt hinter dem Dorf, in einer guten Stunde zu Fuß zu erreichen, steht eine fast senkrechte Felswand - der Traum des Basers.

Auf der "Base Fatality List" stehen 120 Todesfälle. Allein im Jahr 2007 sprangen in Lauterbrunnen drei junge Baser ungewollt in den Tod. Es waren noch nicht einmal Anfänger, sondern erfahrene Sportler, die bereits viele Sprünge absolviert hatten. "Es darf keine Routine aufkommen", warnt Schirber, "selbst wenn man eine Brücke oder einen Felsen schon hundert Mal gesprungen ist, muss man sich intensiv auf einen Sprung vorbereiten und dazu gehört das sorgfältige Packen des Schirms." Wer falsch packt, riskiert den Tod. Springt man von einem 1000 Meter hohen Berg, packt den Schirm aber für einen 90-Meter-Sprung, zerreißt der zu früh geöffnete Schirm. Im umgekehrten Fall wird er sich nicht rechtzeitig vollständig öffnen und die Landung tödlich ausgehen.

Den neuesten Kick bringen Sprünge mit sogenannten Wingsuits. Sie dienen eigentlich dazu, möglichst schnell weit weg von der harten Felswand zu fliegen. Jetzt aber fliegen die Springer auf sogenannten Konturenflügen entlang dem unnachgiebigen Stein. "Wem da Erfahrung und Nerven fehlen, riskiert sein Leben", sagt Schirber. Überschlägt man sich ungewollt beim Absprung kann Panik einsetzen, die den Springer lähmt. "Wer Todesangst hat, verliert sein Zeitgefühl", erklärt er, "dabei zählt jede Sekunde, den Fehler zu korrigieren." Doch nicht selten läuft die Zeit gegen die Springer.

Dieser Leichtsinn und die Selbstüberschätzung von jungen Springern ärgern Schirber, der in seinen zwei "Lehrjahren" Respekt vor dem Sport entwickelt hat. Sie bringen das Basen immer wieder in Kritik und machen das Anliegen des VDO schwer: den Sport sicher zu machen und damit die Akzeptanz in der Gesellschaft zu fördern. Dennoch hat der VDO in den vergangenen Jahren ganze Arbeit geleistet: Über 1000 Sprünge haben die Baser nicht mehr nachts, sondern auf genehmigten Events absolviert. Sie sprangen vom Berliner Alex, Hotels in Hamburg und Windrädern in Mecklenburg-Vorpommern.

Der Traum vom Fliegen

Anfangs mussten Polizei, Rettungswagen und Flugsicherung dabei sein. Heute haben die Baser regelmäßigen Zugang zu rund 20 Objekten in Deutschland. Und sie sind gern gesehene Attraktion auf öffentlichen Veranstaltungen wie dem Wolkenkratzer-Festival, auf dem die Frankfurter ihr "Mainhattan" feiern. 2007 boten ihnen Schirber und 14 seiner Kollegen gleich einen Weltrekord: Sie sprangen zehn Häuser in 24 Stunden.

Rekorde und spektakuläre Sprünge vermelden Baser rund um den Globus. 1990 sprang ein ehemaliges Mitglied der Royal Marines von der St. Paul's Cathedral in London und schaffte es, innerhalb von nur 31,1 Meter seinen Schirm rechtzeitig zu ziehen. Der Schweizer Ueli Gegenschatz gehört zu den Pionieren, der als Erster vom "Pilz" der Eigernordwand sprang. Mit neun weiteren Springern "bezwang" er die 452 Meter hohen Petronas Towers in Kuala Lumpur. Der Australier Gary Cunningham tat es ihnen nach, ließ sich aber gleich 133-mal in 24 Stunden von den Zwillingstürmen fallen. 22 Tage lang bestieg ein australisches Paar den 6600 Meter hohen indischen Meru Peak, ehe sie zwei Minuten lang "hinunterflogen".

Ins Guiness Buch der Rekorde schaffte es Hajo Schirber bereits 2005. Zu zehnt sprangen sie 107 Meter tief aus der Kuppel der größten freitragenden Halle der Welt, dem Tropical Island Resort nahe Berlin - und absolvierten damit den größten Simultansprung innerhalb eines Gebäudes. Schirber, der beruflich Messen organisiert, ist begeisterter Objektspringer. Sein Traumobjekt ist er bereits gesprungen: den Frankfurter Messeturm.

"Ich kann hundert Mal die gleiche Brücke gesprungen sein, jeder Sprung bleibt etwas Besonderes. Es ist das Gefühl, die Technik sauber zu beherrschen und die eigenen Ängste zu besiegen. Wenn du unten sicher gelandet bist, weißt du, dass du für dich und dein Handeln absolute Verantwortung übernehmen kannst." Wenn Hajo Schirber vom Basen spricht, dann fallen selten Worte wie "Kick" oder "Rekord". Für den ruhigen Franken ist der Extremsport eine innere Einkehr und technischer Perfektionismus zugleich. "Denn eines sind wir Baser ganz sicher nicht: lebensmüde."

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