Süddeutsche Zeitung

Trauerkultur:Streut meine Asche in den Wasserfall

Manche haben genaue Vorstellungen von ihrer eigenen Bestattung. Doch müssen die Hinterbliebenen diese Wünsche erfüllen?

Von Violetta Simon

Der Tod ist nicht mehr, was er einmal war. Bis ins vergangene Jahrhundert hinein gab es bei einer Beisetzung lediglich ein paar Grundsatzfragen zu klären: Sarg aus Kiefer oder Eiche, Bibelvers, Grabrede, Leichenschmaus. Extrawünsche standen nicht zur Debatte. Im Tod sind alle gleich, so sagt es die Kirche. Zwar müssen wir uns nach wie vor an Friedhofszwang und Bestattungsgesetz halten, ansonsten aber haben wir die Qual der Wahl: Erd-, Feuer- oder Seebestattung? Friedhof, Friedwald oder Ruheforst? Streichquartett im Smoking oder spanische Gitarrenklänge auf CD?Trauerfeier in der Kapelle oder im Palmenhaus - was darf es sein?

Sterben und Tod waren in Europa Jahrhunderte lang Teil des Alltags. "Der medizinische Fortschritt hat den Tod aus unserem Sichtfeld verbannt", sagt der Soziologe Thorsten Benkel, der an der Universität Passau die deutsche Trauerkultur erforscht. "Das - und der Bedeutungsverlust der Religionen - führt dazu, dass die Menschen einen eigenen, persönlichen Umgang mit dem Tod suchen."

Das Bedürfnis nach Individualität steht dabei ganz oben - der Bestatter wird zu einer Art "Ritualdesigner". Viele wollen durch das Begräbnis hervorstechen, weil der Verstorbene für sie ein einzigartiger Mensch war. Mindestens ebenso wichtig ist die Gestaltung des Liegeplatzes. Die Trauerfeier findet schließlich nur einmal statt, das Grab steht hingegen mindestens 20 Jahre.

Steinmetze berichten, dass viele Kunden nach Grabsteinen verlangen, die sonst keiner hat, jenseits gängiger Vorlagen und Muster. Auch Särge werden individuell gestaltet, bemalt und dekoriert. Vereinzelt werden Modelle gewünscht, wie sie in Ghana seit etwa 50 Jahren üblich sind: Kreationen, die den Lebensweg des Verstorbenen darstellen, etwa in Form einer Nähmaschine, eines Turnschuhs oder Handys.

Immer mehr organisieren ihre eigene Beerdigung

Manche bestellen schon zu Lebzeiten ihren eigenen Sarg. Überhaupt nehmen immer mehr Menschen die Organisation ihrer Beerdigung selbst in die Hand. Schließlich hat man oft genug bei anderen Familien erlebt, wie hilflos Angehörige in so einer Situation sind. Teuer ist das Ganze auch, also lieber keine Umstände machen und stattdessen eine schlichte Rasenplatte wählen - oder gleich eine anonyme Bestattung.

Anderen geht es eher darum, ihre Beerdigung nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Alles soll so ablaufen, wie sie es gern hätten. "Manche beruhigt es zu wissen, wie das eigene Grab aussehen wird", sagt Benkel. "Sie lassen es schon zu Lebzeiten bauen, wählen ein Foto von sich für den Grabstein". Wenn sie dann davor stehen, haben sie das Gefühl, die volle Kontrolle zu haben.

Es kann durchaus vorkommen, dass Hinterbliebene von der Entscheidung, die der Verstorbene zu Lebzeiten getroffen hat, überrascht werden. Weil Menschen nun einmal nicht gerne über den Tod sprechen. Oder die Kommunikation wegen familiärer Konflikte eingestellt wurde. Da sehen sich Angehörige im Testament des Onkels dann plötzlich mit der Bitte konfrontiert, den begeisterten Hobbysegler einäschern zu lassen und im Meer zu verstreuen. Obwohl er - genau wie die gesamte Familie - in Baden-Württemberg lebte.

Doch wer sollte in diesen Dingen das letzte Wort haben - die Person, die das alles organisiert und bezahlt, auch wenn sie ihre eigene Beisetzung nicht erleben wird? Oder jene, die im irdischen Leben davon betroffen sind, also die Angehörigen? Was, wenn die Mutter die Tochter bittet, ihre Asche in den Wasserfall hinter dem Familienwohnsitz einzustreuen, der Bruder aber nicht einverstanden ist, weil er ein Grab wünscht, an dem er trauern kann?

Benkel erzählt von einem Schweizer, der wollte, dass man seine Asche auf den Boden kippt, zusammenkehrt und in einen Mülleimer schüttet. Die Bestattungsregeln in der Schweiz würden das ermöglichen. Doch dem Sohn ging das zu weit. Er wandte sich an den Pfarrer und sagte: "Ich kann das nicht." Der entschied, den Wunsch des Verstorbenen zu ignorieren - aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen.

Solche Geschichten zeigen die Komplexität der gegenwärtigen Trauerkultur und werfen Fragen auf: Haben Angehörige einen Anspruch auf einen Ort für ihre Trauer? Selbst wenn das bedeutet, dass die Überreste des Verstorbenen gegen dessen Willen in einem Grab landen - oder in einer Urne in der Wohnzimmervitrine? "Am Ende betrifft die Bestattung und die damit verbundenen Entscheidungen stets die Hinterbliebenen, die ja mit der Trauer umgehen müssen", sagt Soziologe Benkel. Daher sei es naheliegend, wenn diese es auch organisieren.

Insgesamt scheint es eine zunehmende Tendenz bei Angehörigen zu geben, die Asche des Verstorbenen an bedeutsamen Orten zu verstreuen - oder sie in einer Urne im eigenen Wohnbereich aufzubewahren. Und immer wieder finden sich Bestatter oder andere Dienstleister, die die Hinterbliebenen dabei unterstützen, sich über den bestehenden Friedhofszwang hinwegzusetzen. Dass hier offenbar ein Bedürfnis zum Ausdruck kommt, wird vom Staat nach wie vor ignoriert: Bisher hat Bremen 2015 als einziges Bundesland den Friedhofszwang abgeschafft.

Doch selbst mit der Urne im Wohnzimmer hat im Zweifel ein einzelner Angehöriger sein Bedürfnis umgesetzt. Und entzieht damit zugleich anderen Hinterbliebenen den Ort für ihre Trauer - es sei denn, seine Tür steht anderen Trauernden offen. So wie die Frau, die die Asche ihres Gatten in einer Urne im Wohnzimmer aufbewahrte. Hin und wieder kam ein Freund ihres Mannes vorbei und fragte, ob er hereinkommen dürfe. Er ging zur Urne, berührte sie und blieb eine Weile so stehen. Nach einer Zeit ging er wieder.

Nicht immer können sich alle Beteiligten friedvoll einigen, wie man etwa am Streit um die Trauerfeierlichkeiten und die Beisetzung von Helmut Kohl im Juni sehen konnte. Gerade in Patchworkfamilien stehen sich oft unterschiedliche Bedürfnisse gegenüber. Was, wenn ein Ehepaar ein gemeinsames Grab kauft, einer von beiden jedoch unerwartet früh stirbt und der andere noch einmal heiratet? Soll er sich trotzdem im Familiengrab bestatten lassen? Und wohin mit dem neuen Partner - in ein eigenes Grab oder mit hinein? Und was sagen die Kinder, wenn ein Elternteil in einer "Ménage à trois" gebettet wird, statt die jeweilige Mama zum jeweiligen Papa?

Eine Lösung könne auch die Aufteilung der Asche sein, gibt Soziologe Benkel zu bedenken. Eine Hälfte im Grab, die andere in einer Urne zuhause - und aus einem kleinen Rest womöglich ein Bestattungsdiamant. So wird die Asche zum Symbol: "Theoretisch könnte da sogar Sand drin sein, es hätte die gleiche Wirkung".

Überlegungen wie diese zeigen eine weitere Entwicklung im Umgang mit dem Tod: Viele Menschen möchten nach ihren eigenen Vorstellungen der Verstorbenen gedenken. Trauer wird zunehmend zur Privatangelegenheit. Der sonntägliche Friedhofsbesuch - und die damit wiederkehrende Erinnerung an die Toten - war lange ein festes Ritual. Heute sei man an Friedhöfen in der Regel alleine, bis auf die einschlägigen Feiertage. Einer Befragung der Uni Passau zufolge können viele Menschen überall trauern und brauchen dazu keinen bestimmten Ort. Die wachsende Zahl an Online-Gedenkportalen kommt diesem Trend entgegen.

Früher - und in orientalischen Kulturen bis heute - war Trauer eine kollektive Angelegenheit, zu der sich das halbe Dorf versammelte. Durch Trauerbekundungen präsentierte man sich als Gemeinschaft. Heute ist in Traueranzeigen immer häufiger die Bitte zu lesen, von Trauerbekundungen abzusehen. "Darin spiegelt sich der allgemeine Rückzug ins Private", sagt Benkel. Man habe keine verlässlichen gesellschaftlichen Strukturen mehr, Ehen brechen auseinander, Jobs gehen verloren. Da beziehe man sich lieber auf Familie und Freunde - und schließe Uneingeweihte aus.

Ähnlich wie bei modernen Wohnmodellen wollen die Menschen also unter ihresgleichen bleiben und ziehen Zäune um ihren Bereich. Die Privatisierung der Trauer - ein weiteres Zeichen für eine zunehmende Individualisierung. Benkel findet das nicht überraschend: "Die gesellschaftliche Entwicklung spiegelt sich in unserer Bestattungskultur", sagt der Soziologe. "Im Umgang mit dem Tod und den Toten erkennen wir, wie wir im Leben miteinander umgehen".

Im Fall der Mutter, die ihre Asche dem Wasserfall übergeben wissen wollte, entschied die Tochter übrigens, dass es doch ein Grab geben wird - und somit eine Trauerstätte für den Bruder. Zweifellos, so die Begründung, sei es im Sinne der Verstorbenen, wenn ihre Kinder sich nicht wegen ihrer Beerdigung streiten.

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