Ihr Sohn ist seit 16 Jahren auf dem Münchner Westfriedhof begraben. Direkt gegenüber arbeitet Nicole Rinder in einem Beerdigungsinstitut, das anders ist als die meisten Bestatter. "Ich war damals davon überzeugt: Eine Beerdigung ist schrecklich. Alles ist schwarz, trostlos, dunkel, schwer. Als ich erfahren habe, dass mein Sohn sterben wird, habe ich Florian Rauch kennengelernt, der das Bestattungsinstitut AETAS gründete, das wir heute gemeinsam leiten." Auf Deutsch heißt das Lebenszeitspanne. "Er hat mir ein ganz anderes Bild vermittelt", sagt Rinder. "Mein Sohn konnte noch zu Hause bleiben und wurde nicht gleich abgeholt, ich durfte ihn selbst anziehen, ihn einbetten, die Musik spielen, die mir gefällt. Heute geben wir anderen Angehörigen den Raum zum Weinen. Ich ermutige dazu, Trauer zuzulassen: Wenn nicht jetzt, wann dann?" Im Folgenden erzählt sie von ihrem schweren Verlust.
"1999 ist Leon Paul gestorben. Bis dahin führte ich ein ganz normales Leben. Ich war Arzthelferin, in einer Partnerschaft, wurde schwanger und erfuhr im achten Monat, dass mein Sohn nicht lebensfähig sein wird. Er hatte ein Aneurysma, ein Blutgerinnsel im Gehirn. Zwei Zentimeter daneben, und er hätte gerettet werden können. So aber führte seine Erkrankung dazu, dass er zusätzlich noch einen schweren Herzfehler hatte. Er war nicht operierbar. Die Ärzte waren nach der Diagnose überrascht, dass er überhaupt noch lebt, und überzeugt, dass er noch im Mutterleib oder direkt bei der Geburt sterben wird.
Die Diagnose war ein Albtraum. Von einer Sekunde auf die andere spürte ich weder mich noch das Kind in meinem Bauch. Ich wollte nur noch raus aus dieser Situation. Wollte einen Kaiserschnitt. Es war fast surreal, zu wissen, dass das Kind, das sich noch im Bauch bewegt, in den nächsten Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen oder Wochen sterben wird.
Leon Paul überlebte vier Tage. Er lag an meiner Brust, schlief, wurde gewickelt und schrie wie ein gesundes Baby. Dann brachte mein Sohn den Tod in mein Leben. Als er starb, war das ein Gefühl, als würde mir das Herz herausgerissen. Ich war davon überzeugt, nicht mehr weiterleben zu können. Dieser Schmerz war einfach zu groß.
In den vergangenen Jahren habe ich von vielen betroffenen Eltern gelernt, dass es in Bezug auf den Schmerz keinen Unterschied gibt, wann man sein Kind verliert. Der Schmerz ist immer der Gleiche. Der große Unterschied liegt darin, dass die Erinnerungen, Erlebnisse an ein gemeinsames Leben anders sind. Bei mir standen keine Kinderschuhe da, ich weiß nicht, ob er am liebsten Spaghetti gegessen hätte, wie seine Stimme wäre.
An dieser Weggabelung hatte ich wenig Möglichkeiten
Ich hatte Schlafstörungen und war ohne jeden Appetit. Was ganz normale und gesunde Trauerreaktionen sind. Neben dem psychischen Schmerz reagierte ich psychosomatisch auf den Tod meines Kindes: Über Nacht bekam ich im Gesicht eine Eiterflechte.
Trauer ist eben, neben der Liebe, eines der stärksten Gefühle, die wir Menschen empfinden können. Sie reißt einen aus dem normalen Leben heraus und gibt einem teilweise das Gefühl, verrückt zu werden. Man wird in eine neue Welt hineinkatapultiert, in der man sich nicht auskennt. Das Gefühl, man ist der Einzige, dem so etwas passiert, begleitet einen sehr lang. Trauer ist unfassbar anstrengend. Darum spricht man auch von Trauerarbeit.
An dieser Weggabelung hatte ich wenig Möglichkeiten: In eine Trauerstarre verfallen oder mir das Leben nehmen. Ich hätte mich den Rest meines Lebens dagegen wehren können, dass mir das passiert ist. Damit immer weiter hadern können, in eine Opferrolle fallen und depressiv werden. Oder es annehmen.
Ich wollte damals nicht weiterleben. Nicht, dass ich mir konkret Gedanken gemacht habe, wie ich mein Leben beenden wollte, nur war der Schmerz einfach so groß, dass ich mir nicht vorstellen konnte, damit weiter zu leben. Ich dachte, daran kann man nur zerbrechen. Jeden Tag habe ich mir gewünscht, am nächsten nicht mehr aufzuwachen. Es war ein Wunsch nach Erlösung. Tatsächlich kommen manche Menschen nie wieder aus ihrer Trauer heraus. Sie haben den Sinn im Leben verloren und verfallen der Alkohol- oder Tablettensucht, bekommen Depressionen.